In einer Sache sind sich Narren rund um den Globus einig: Nur einmal im Jahr Fasching ist zu wenig. Ein adäquates Angebot für sie kommt aus der südspanischen Region Murcia, denn in Águilas heißt es zumindest zweimal jährlich "Viva el carnaval!" - einmal ganz klassisch im Februar und ein weiteres Mal Anfang August zur touristischen Hochsaison.

Zweite Chance für Narren

Águilas liegt an der Costa Cálida, der "heißen Küste", wie sie wegen ihres warm-trockenen Mikroklimas heißt. Deshalb wird die zweite Auflage des Faschings im Sommer auch nur in den Nächten gefeiert. Zudem ist der August-Karneval bloß eine abgespeckte Version der Februar-Fiesta, zwar mit Kostümwettbewerb und Umzügen, aber ohne die eigentlich interessanten traditionellen Figuren und Spielregeln. Immerhin: Wo sonst auf der Welt bekommen Narren eine zweite Chance.

Der Karneval im südspanischen Águilas ist gelebtes Recyling. Im Februar wird Alkohol, der noch vom Advent übrig ist, zusammengepanscht. Im August werden die Kostüme noch einmal getragen, weil im Sommer ein zweiter Fasching gefeiert wird.
Foto: Ayuntamiento de Aguilas / Agustín Marín

Im Februar dagegen ziehen die milden Temperaturen tagsüber regelrecht Massen an. "Das sonst so beschauliche, knapp 30.000 Einwohner zählende Städtchen vervierfacht in dieser Zeit seine Bevölkerungszahl", sagt Asensio Martínez Haro, der seit Jahrzehnten als selbstständiger Reiseführer in dieser Region an der Grenze zu Andalusien arbeitet.

Turbo-Glühwein aus Noagln

Auch in einer anderen Angelegenheit gibt es Konsens unter Narren: Im Fasching muss man ausreichend Flüssigkeiten zu sich zu nehmen. Vor allem solche, die für Dehydrierung sorgen. Die findigen Bürger von Águilas mischen dafür, durch den Recyclinggedanken inspiriert, die Alkoholreste vom Weihnachtsfest zusammen.

Martínez Haro ist nicht nur Guide, sondern auch der Bruder eines wahren Meisters der Mischung. Für den besten Getränkemix der Saison winkt in Águilas ein Preis. Und Asensios Bruder bekam - neben Kopfschmerzen - die Auszeichnung als bester Mixer schon mehrfach verliehen. "Cognac, Brandy, Whisky, Rum, Gin, Wodka, Tequila, Wermut, Wein oder Sekt", listet Martínez Haro auf: "Was auch immer übrigbleibt, wird mit süßem Muskatellerwein und Gewürzen wie Zimt, Kardamom oder Nelken gemischt. Dazu kommt irgendein Softdrink zur Reduktion der vielen Volumsprozente." Cuerva nennt sich dieses an "Turbo"-Glühwein erinnernde Gepanschte, das in Spanien eiskalt getrunken wird.

Fleischeslust und Fasten

Im traditionellen Kostümwettbewerb, den sich knapp einhundert Vereine untereinander ausmachen, treffen Figuren wie Don Carnal, "Herr Fleischeslust", und Doña Cuaresma, "Frau Fastenzeit", aufeinander. Vermögende Bürger tauschen ihre Designerkleider für die Dauer des Karnevals gegen Bettlerklamotten ein, Mindestlohnempfänger machen es genau umgekehrt. An Humor mangelt es den Águileños nicht.

Foto: Ayuntamiento de Aguilas / Agustín Marín

Auch Tabus gibt es bei der Kostümwahl keine. So winkt etwa ein alter Mann als gekreuzigter Jesus den Massen zu, während ihn von Ziegen begleitete Fremdenlegionäre die Strandpromenade entlangtragen. Frauen schlüpfen in Männerrollen, Männer surfen, als Großmütter verkleidet und mit Plüschhäschen im Intimbereich, zum Klassiker der Beach Boys auf Bügelbrettern. Und zwischen Dragqueens gesellen sich, unseren Krampussen durch das Verteilen von Rutenschlägen nicht unähnlich, flauschig-fellige Teuferl.

Ausgezeichneter Panoramablick

Eine der zentralen Figuren im Karneval von Águilas ist die Mussona. Halb Mensch, halb Tier, erinnert ihr Kostüm je nach Gilde und zoologischer Vorliebe an Ziegen, Reptilien, Wildschweine, Bären oder Haie. Stets zum Auftakt des Karnevals wird die Mussona in Ketten von der im 18. Jahrhundert zur Verteidigung gegen Piraten errichteten Festung, dem Castillo de San Juan, zum Hauptplatz, der Plaza de España gebracht. Von der Festung hat man übrigens einen ausgezeichneten Panoramablick über die zwei Strände der Stadt, Levante und Poniente.

Provokation und Befreiung

Durch Trommelwirbel und Gesang versucht die Menge, die Bestie zu provozieren. "Dabei kann es schon einmal passieren, dass sie entwischt und sich Zugang zu Geschäften, Bars oder auch Privatwohnungen verschafft, um dort Unsinn zu treiben", erklärt Martínez Haro. Erst wenn die Mussonas aus dem Vorjahr die aktuelle Amtsträgerin auf dem Hauptplatz befreit haben, hat der Fasching von Águilas offiziell begonnen.

Die Musa, als eine Art Gegenspielerin der Mussona, spielt eine auch bei uns geläufige Rolle: die der schönen Faschingskönigin, die nicht mit Reizen geizt. Allerdings kann diese Figur in Águilas sowohl von Männern als auch von Frau verkörpert werden. Sie führt den Umzug mit oft über tausend Tänzerinnen und Tänzern an.

Früher gab es genaue Regeln

Seinen Ursprung hat der sehr ausgelassene Karneval von Águilas in der Zeit nach der Stadtgründung durch den spanischen König Karl III. im Jahr 1766. Im 19. Jahrhundert folgte das Fest dann aber einem strikten Stundenplan, der genau regelte, wann man verkleidet sein durfte und wann nicht. Das vielerorts in Spanien beliebte Werfen mit Mehl und Wasser war in Águilas sogar verboten.

Foto: Ayuntamiento de Aguilas / Agustín Marín

Erst in den 1920er- und 1930er-Jahren wurden die ungewöhnlich strengen Faschingsregeln wieder gelockert und das Brauchtum dadurch just vor dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs neu belebt. Eine Renaissance temporärer Ausgelassenheit, die nur kurz währte, bevor der Karneval in der Franco-Diktatur endgültig verboten wurde.

Seit Anfang 2015 gilt der Karneval von Águilas nun hochoffiziell als "Fiesta von internationalem touristischem Interesse". Diesen vom spanischen Tourismusminsterium vergebenen Ehrentitel tragen in Spanien insgesamt nur 30 populär-kulturelle Veranstaltungen, was bei abertausenden Fiestas im Land durchaus als Auszeichnung und Qualitätsmerkmal zu verstehen ist.

Pappmaschee-Prinzessinnen

Einen guten Einblick in die Geschichte der Veranstaltung gibt auch das bereits 2002 eröffnete Faschingsmuseum, das Museo del Carnaval in der Calle Pizarro. Dort erfährt man durchaus Bemerkenswertes über die Machart der Maskierung: Besonders beliebt in Águilas - und aufwendig in der Herstellung - sind die aus Papier, Karton und Pappmaschee gefertigten Kostüme, "Trajes de papel". Seit Jahrzehnten stellen sich Bastler einer eigenen Jury, die Kreativität und Kunstfertigkeit beurteilen. Hier konkurrieren Paradiesvögel, Oktopusse, fleischfressende Pflanzen, Figuren aus dem Videospiel Super Mario Bros oder eben - ganz klassisch - Prinzessinnen in Pappe um den Titel.

Konfetti-Eier als Wurfgeschosse

Ein kurioser Brauch ist es, bereits Monate vor dem Karneval ausgeblasene Eier zu sammeln, diese mit Konfetti zu füllen und am Faschingsdienstag als Wurfgeschosse in der symbolischen Straßenschlacht zwischen Don Carnal und Doña Cuaresma einzusetzen. Carnal steht für den Partysüchtigen, den Gourmand, den Exzessmensch. Cuaresma ist das krasse Gegenteil: Sie verkörpert Abstinenz, Zucht und Ordnung. Eben das, was in den folgenden 40 Tagen bis Ostern winkt. (Jan Marot, DER STANDARD, 7.2.2015)