Der Opernball ist das Wundmal Wiens. Jahr für Jahr offenbart er die windigste, halbseidenste, pornografischste Seite der Stadt. In Kollaboration mit Staatsspitze, Staatsregierung, Stadtoberhäuptl. Von Staatsfernsehen, Boulevard, Tourismusindustrie als "Mega" hochgepusht. Ein "Event" von allenfalls lokaler Beachtung. Dem Schein nach. Denn diese Staatsaffäre ist international hinaufkolportiert zum Synonym für die Kapitale Österreichs. Im Rang von Neujahrskonzert, Riesenrad, Sachertorte. Ein Statthaltersymbol des Kleinstaates.
Metapher ist dieses Ritual für die austriakische Welt. Mehr noch: Metonymie. An ihr ist das Aggregat der Seelen, Körper, Politiken abzulesen. Ein Menetekel. Augenscheinlich.
Und jetzt liegen dafür endlich die Beweise vor. Schwer. Drei Kilogramm Empirie.
Ab sofort geht es nicht mehr nur um meine Befindlichkeit, um persönliche Beobachtung, um subjektive Behauptung eines Ballbesuchers, der seinen Kopf mit aufs Parkett genommen hat. Der Schweizer Bildkünstler Jules Spinatsch legt vor:
10.008 Fotografien, die seine zwei digitalen Netzwerkkameras 2009 auf dem Opernball vom Opernball geschossen haben. Die beiden Aufnahmegeräte drehten sich um die eigene Achse, erfassten vom Einlass um 20.23 Uhr bis zur Schließung um 5.10 Uhr das Terrain rundum, als Panorama von Boden zu Decke. Alle drei Sekunden wurde geschossen. Jeder Punkt des Austragungsortes wurde zweimal aufgenommen. 2011 inszenierte der Dokumentarist dieses Material als Installation rund um den Wiener Karlsplatz.
Buchseiten und Ballminuten
Jetzt veröffentlicht er seine Videoüberwachung in einer Kassette mit drei Bänden: "Vienna MMIX" – "100008/7000 Surveillance Panorama Project No. 4" – "The Vienna Opera Ball".
Band 1 enthält die 10.008 Bilddokumente, 600 Seiten, eine Buchseite entspricht einer Ballminute, über die Auswahl entschied allein die Aufnahmemaschinerie.
Band 2 enthält 71 Einzelaufnahmen aus dem 10.008er-Fundus, die Auswahl besorgte der Künstler als Autor.
Band 3 enthält zwei Texte – einmal beschreibt ein Kurator das Spinatsch-Projekt im gestelzten Musealdiskurs mit obligatem Foucault-Zitat plus Deleuze-Duftnote. Dann reprintet der Verlag Wolf Singers bekanntes neurobiologisches Grundwissen, nicht vermittelt mit der vorliegenden Arbeit von Spinatsch und nicht auf Spinatsch bezogen. Als wüsste die ästhetische Erfahrung nicht schon seit tausend Jahren um die Effekte der Wahrnehmung, deren gehirnliche Erforschung gerade erst begonnen hat. Medienanalytische oder theaterthematische Durchforstung des Materials fehlt komplett. Wie spannend wäre der kunsthistorische Blick beispielsweise einer Renate Berger auf diese Bilder gewesen, wie erhellend eine bildwissenschaftliche These von Gottfried Boehm dazu. Nichts davon.
Die Biografie des Künstlers ist ausgespart im teuren Katalogpaket. Dafür ist dieses Textsupplementchen in edler manueller Knotenfadenheftung gleich dreimal gefalzt.
Überhaupt entsprechen Schuber, Bindung, Buchgestaltung nicht der Idee, Aussage, Qualität des Opus und nicht der Preisgestaltung von 130 Euro. Schon beim ersten Aufklappen des 10.008-Fotos-Bandes bricht der Broschur der Rücken, das Kunstleder der Umschläge in Beige und Jägergrün fühlt sich an wie billigste Plaste-und-Elaste-Umschläge abwaschbarer Kochbücher aus der DDR. Und die schwachbrüstige Kartonage des Schubers trägt nicht die drei Kilo des Editionsgewichts.
Gewicht. Gewichtig. Gesamtgewicht.
Im Ball geht es um "Das Ganze". Immerhin.
Müßig, sich um innerstädtische Sozialdetails der Society zu bemühen, ob Opernball bereits Sammelbecken sei für urbane Ständemischung, Philharmonikerball noch Festung der Ständetrennung.
"Das Ganze" – das ist die Panoramawelt der Zeitgenossenschaft. Ablesbar an dieser Chiffre "Ball". Jules Spinatsch hat eine komplette Videoüberwachung der Chiffre "The Vienna Opera Ball" abgeliefert.
Es ist nicht eine beliebige fotografische Versuchsanordnung eines Webcamartisten. Hier werkelt kein Fotofreak. Hier programmiert ein professioneller Partisan der Observation. Er bedient sich medialer Macht und Maschine, er betreibt politästhetische Datenvorratsspeicherung. Und das nicht zum ersten Mal. Mit seinem Konzept "Surveillance Panorama" hat er bereits Fußballspiel, Stadtratsversammlung, Verkehrsleitzentrale, Börse observiert, er hat auf dem Weltwirtschaftsforum dokumentiert, auf dem G-8-Gipfel dokumentiert. 2001 begann der Künstler mit diesen Langzeitprogrammen "Temporary Discomfort". Mit dem winterwirtschaftskritischen "Snow management" gewinnt er 2001 internationale Aufmerksamkeit, die seine Arbeiten ins Münchner Haus der Kunst, ins New Yorker MoMA, in die Londoner Tate Gallery bringen.
1964 in Davos geboren, jenseits von Kunst und Kultur in einem Hotel aufgewachsen, entdeckt er nach abgebrochenem Soziologiestudium erst mit 25 in Zürich die laufenden Bilder. Lieblingskamera? "Das Besondere ist nicht die Kamera, das Besondere ist meine Programmierung!", sagt er. Der Autodidakt wird Reportagefotograf. Danach eine Ausbildung am "International Center of Photography" in New York. Danach: "Künstler zu 100 Prozent".
Was führt Spinatsch vor?
Es ist das Inventar eines ballösen Tatorts: Böden, Decken, Wände, Parkett, Posament, Stuck, Rosen, Risse im Verputz, Vorhänge, Frauen, Treppen, Teppich, Tapisserie, Trostlosigkeit, Stellagen, Seilzüge, Augen, Gerüste, Gläser, Monitore, Männer, Flusen, Flaschen, Fleisch, Frischfleisch, Altfleisch, Schmerz, Stühle, Tische, Brüste, Monitore, Mascherl, Skepsis, Perlen, Perücken, Luster, Leuchten, Langeweile, Lichtwechsel, Livrees, Lichtwechsel, Lackschuhe, Lachen, Mikrofone, Ärsche, Händys, Missgunst, Polster, Finger, Fräcke, Kummerbünde, Kamera, Depression, Staub, Zeit, Decolletees, Böden, Decken, Wände, Gammelfleisch.
Ein Nebeneinander. Ein nichtiges Nebeneinander. Materialien. Desinfiziert. Ohne Atmen. Ohne Leben. So nichtig wie wichtig. Masse. Muster. Ohne Wert. Ohne Rang. Bloßes Inventar. Zehntausendundachtmal.
Was macht das Auge des Betrachters? Es verändert sich. Erst schaut die reine Unschuld. Aber, über dem Befassen, mutiert die Wahrnehmung. Sie verliert die naive Neugierde. Begreifen. Anfangs noch Ballconnaisseur, Tourist, Wienling, Biologe. Dann der Deutsche mit dem bösen Blick. Der Ethnologe für die fremde Rasse. Und plötzlich implodiert's, und plötzlich explodieren die niedrigsten Instinkte: Man schaut nicht mehr, man blickt nicht mehr, man beobachtet nicht mehr. Der Lektüretisch wird zur monitorbewehrten Glasplatte in U-Bahn-Station, in Tankstelle, in Bankschalterraum, in Polizeistation. Der Blick wird sachlich, kalt, teilnahmslos, ohne Gefühl, ohne Mitgefühl, ohne Sympathie, der Blick wird frech und holt die Lupe hervor. Aus dem Leser wird Security. Die Lektüre wird Spionage.
Ich, das Schwein von Voyeur? Von Voyeur, Kontrolleur, Inquisitor und Investigator. Hatte ich je den Geheimdienstler in mir wahrgenommen? Plötzlich das Verstehen von Stasi- und CIA-Agenten, die freudlos die unbeschreibliche Langeweile von 10.008 Opernballbildern perzipieren, registrieren, analysieren, kategorisieren, katalogisieren müssen. Die suchen müssen nach dem Föhn-Grasser, dem Pomaden-Fischer, dem Styropor-Lopatka, dem Rotbrill-Swoboda, dem Mafiamaskenoberlippentheaterbart-Springer, dem Tränensack-Lugner. Die aufspüren müssen die Windigkeiten von Wichtigtuern und Nichtigtuern der ORF-Fernseh-Quasselbuden-Fürstln und -Würstln. Die einen Hubsi Kramar ausspähen müssen, der diesmal womöglich nicht als Adolf kommt, diesmal nur, als nackter Frack verkleidet, herumkonspiriert.
Jules Spinatschs Programm geht auf, seine Programmierung rechnet sich. Er arbeitet mit den Methoden medialer Machthaber, er setzt die Technologie der Sicherheitsorgane ein: "Wie in einem Hightechkrieg wollte ich durch Verwendung von ferngesteuerten Kameras Bilder schaffen, ohne physisch anwesend zu sein!"
Die Suggestion des Einsatzes dieser trockenen Technik wirkt, die Ästhetik der Überwachung wirkt, wirkt so stark rezeptionsleitend, dass selbst der arglose, höchstens Kultur- und Ethnologie-Interessierte vom Betrachter zum Kumpanen der Observation mutiert. Und sich zum Häscher, Verräter, Verfolger der fotografisch Registrierten wandelt.
Gemildert zeigt sich die Prozedur des Einsatzleiters Spinatsch, wenn er wieder zum Autorenfotografen geworden ist, der seinen Fundus durch bloße Auswahl ästhetisiert: Die Ästhetik der Datenspeicherung als Entschärfung durch Schönung. Schönung? Im Band 2 führt er traumhafte Stillleben vor, scheinbar einfach "schön" die Schnappschüsse, die sich präsentieren wie detailbesessen hyperarrangierte Society-Tableaus oder Standbilder von Burgtheaterinszenesetzungen: traurige Frauen, müder Schampus, machtbesessene Männerfratzen von Männern, die einem nur die pure Angst einjagen. Eine unvorstellbare Trostlosigkeit und die Verwandtschaft zu den Leinwänden von Edward Hopper.
Mit all diesen Zurichtungen erzählt Spinatsch natürlich auch eine Geschichte. Die Story vom Verfall, der Plot von der allmählichen Auflösung unserer Körper, unserer Seelen, unserer Personen. Einheit von Handlung und Ort und Zeit. Neun Stunden lang.
Der Wiener Opernball als Originalschauplatz von Ball-Bordell mit Kontakthof, Tand, Talmi, Tinnef. Eine Biopsie.
Nach diesen neun Stunden hat die Kadaverfotografie aus dem Körungsgelände für den Auftrieb von Frischfleisch und Zuchtgetier die Abdeckerei im Darm der Stadt gemacht.
Nach der Neun-Stunden-Börse ist aus der Markt- eine Leichenhalle geworden, verwandelt ist die Ober- in Unterwelt, abgeblättert der Putz. Eine Autopsie.
Schon um 20.23 Uhr ist die Stimmung unheiter, unbeschwingt, unfroh. Kaum ein helles Gesicht. Es wird wenig gelacht. Tanz? Wirbel? Schwung? Anstrengung! Hingabe? Aufgabe! Freude? Pflicht! Glück? Stress! Leuchten? Gräue!
Es wird mehr fotografiert als getanzt, die Augen sind grau. Bald sind die Blicke blind.
Die Männer von vornherein eine Menge nummerierter Fräcke und Säcke, mit Handys und Kameras bewaffnet; beschuht mit Lack, die Hälse, Sehnen, Furchen und Falten zusammengehalten nur von der Masche. Zum bitteren Ballende hin, nein, schon um 0.13 Uhr, um 2.17 Uhr, die Bewegungsprofile der Zersetzung. Wenn der Herren Kummerbünde kaum mehr den Ballast der Balllast bündeln können – die sind schon so müde geworden, dass aus ihrem Embonpoint Ranzen und Pansen geknipst werden. Wenn der Damen-Push-ups – die sind auch schon so müde geworden, dass aus ihren Brüsten Euter werden. Kann statistischer, kann gnadenloser gecheckt werden, als es diese rigide Registrierung des Herrn Spinatsch vermag?
Unheitere Galanterieware
Die Frauen von vornherein eine Menge nummerierter Schmuck- und Kleiderständer.
Pornografisch die freiwillige Unterwerfung unter den Uniformzwang. Eine einzige Mammografie dieser Ball, eine Orgie der Decolletees, ein einziges Schaufenster voller Bonbonnieren voller Busen, die Brüste, zurechtgerückt und zurechtgedrückt, das Rotlicht des Nackte-Schultern-FKK. Galanterieware.
Und das alles protokolliert ohne Glamour! Ästhetik der Unauffälligkeit, der Unsinnlichkeit, der Sterilität. Nichts ist hier glanzvoll auf Kunstdruckpapier verewigt. Gedruckt wurden die 10.008 Indizienbeweise puristisch auf ein raues, mattes, transparentes Schreibmaschinenpapier, das glanzlos dokumentiert, antiopulent präsentiert.
Und wenn dann auf dieser kargen Haptik im Sekundentakt die entblößten Körper welken und verfallen, enthöhlt, entkernt und ausgeleert, wenn die Fregatten sich abtakeln, die Toupets verrutschen, wenn immer mehr Dame, Diva, Duse, Donna, Dolores zur alleingelassenen, elegischen, ergebenen Gähngruppe sich wandelt, wenn die einstige Zuckerpuppe zum Wrack zerbröselt im digitalen Raster, auf diesen Falschgoldstühlchen, im puffroten Samt der Ränge, wenn. Dann hat eine geheimnisvolle Zentrifugalkraft alle Innerlichkeit und Beseelung des Menschen komplett in das Virtuelle des medialen Alls torpediert.
Pornografisch natürlich auch all diese Polepositionpolitiker, die heute ihre Pomade im Tanzpalast paradieren lassen und morgen Tränen hervorpressen, vor den Kameras, im Konzentrationslager.
So weit also gerät der Datenschützer als Analytiker dieser Bilderhalbwelt in die Ambivalenz. Dankbar formuliert er zum Schluss das Lob der Observation!
So deutlich hat er noch nie erlebt, wie das große Grauen vor dem Zustand der heutigen Welt vors Auge geführt werden kann. Und dankbar ist der Analytiker für die Ästhetik der Methode, das Grauen vor diesem Zustand zu dokumentieren: Wie unsere eh limitierte Zuständigkeit für "Das Ganze" bereits digital enteignet ist. (DER STANDARD, 7.2.2015)