Grafik: Tom-Schaffer-Illustrationswerke Wien

Für eine Wahlwienerin ist die Freundlichkeit, die einem bei der Weltmeisterschaft entgegengebracht wird, total surreal. Mit einem freundlichen "Hi, how are you?" begrüßen einen die Volunteers an der Rennstrecke. Die Mitarbeiterin im Pressezentrum spricht das "Can I help you?" schon aus, bevor man überhaupt eine Frage stellen kann. Der Buschauffeur hat gerne einmal ein Späßchen auf den Lippen und bedankt sich, dass man sein Fahrgast war. "Thank you for your patience", ruft die Frau, die die Leute in der Warteschlange vom Einsteigen in den Shuttlebus abhält. Im vollgesteckten Fahrzeug läuft lockerer Smalltalk. Und über die freundlichste Taschenkontrolle der Welt kann nicht einmal die Wienerin sudern. An jeder Tür wird einem ein Lächeln entgegengebracht. "Thank you" und "Sorry" sind sowieso selbstverständlich.

Und ja, so viel Freundlichkeit ist tatsächlich ansteckend. Es sind auch noch andere Wiener da. Sie granteln nicht! Niemand grantelt. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit. Aber wo ist die Kehrseite der amerikanischen Freundlichkeit? Irgendwann, irgendwo müssen die doch auch einmal grantig sein. Gibt's doch nicht. Vielleicht brüllen sie sich zu Hause ihren Ärger von der Seele, werfen Pfeile auf Poster von Journalisten und schlagen wild auf Sandsäcke ein. Selbst wenn, egal. Hauptsache, am nächsten Tag können sie wieder lächeln, grüßen, helfen, danken und sich entschuldigen.

Bleibt nur noch eines. Die Wiener müssen die angesteckte Freundlichkeit bis zu ihrer Rückkehr dringend wieder ablegen. Wäre ja total surreal. (Birgit Riezinger, DER STANDARD, 7.2.2015)