Das Wichtigste war ein Teppichmesser. Kräftige Hände. Zwei ausdauernde Füße, Lattenzäune, Mauern, Druckereien und die Stadt Paris: In den 1950ern durchstreiften Künstler vor allem den Bezirk Montparnasse, in dem sie wohnten. Sie zogen Affichen von damit zugepflasterten Mauern und Zäunen ab. Damals war das Plakat noch das primäre Werbemedium. Die Künstler, die mit ihren Affichen-Abrissen unter dem Arm in ihre Hinterhofateliers zurückkehrten, nahmen diese, kombinierten, collagierten und re-collagierten sie. Deshalb wurden sie "Décollagisten" genannt oder auch "Affichisten". Dieser Gruppe ist nun in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main eine Übersichtsschau eingerichtet.
Hains, Dufrêne, Villeglé, Rotella: In Frankreich sind dies wohlbekannte Namen. Hierzulande weniger. Die Werke der Jugendfreunde Raymond Hains (1926-2005) und Jacques Villeglé (1926 geboren und bei der Eröffnung anwesend) wie auch jene von François Dufrêne (1930-1982) hängen in bedeutenden französischen Museen.
1949 erstellten Hains und Villeglé mit Ach Alma Manetro ihre erste Décollage: Abgezogene Segmente von vielfach übereinander geklebten Affichen, auf eine Leinwand aufgebracht, ergaben eine neue ästhetische Form und entsprachen einer zeitgemäßen Weltwahrnehmung. Der aus Kalabrien stammende Mimmo Rotella (1918-2006) und der Deutsche Wolf Vostell (1932-1998) setzten sich, teils zeitgleich und unabhängig, teils direkt inspiriert, auf dieselbe Spur.
Die Welt kam so, zerrissen, zerfetzt, neu arrangiert, in die Kunstateliers, auf Leinwand und zwischen Keilrahmen. Nur scheinbar kunstlos, nur scheinbar zufällig, sich unterscheidend von objets trouvés . Denn Hains, Dufrêne, Villeglé, Rotella griffen entscheidend und mit jeweils anderem Temperament ein. Dennoch zogen sie den Zorn der damals tonangebenden Maler des Informel auf sich, die das rein Subjektive und das Genialische propagierten.
Von der Fotografie
Erhellt wird in der Ausstellung, woher Hains und Villeglé kamen: von der avantgardistischen, Motive zerlegenden Fotografie Moholy-Nagys und Man Rays nämlich. Sehr deutlich wird in Frankfurt auch, weshalb die französischen Künstler dem großen, stämmigen Deutschen Wolf Vostell mit Meckifrisur, der erstmals 1954 nach Paris gekommen war, die Aufnahme in ihre informelle Gruppe verweigerten.
Vostells Zugriff war von Anfang an ein teutonisch-politischerer, war weitaus weniger lyrisch und koloristisch. Zurück in Deutschland, machte er denn auch rasch den Schritt zum Happening und zum Hantieren mit Beton.
Vor allem an zwei späten Arbeiten, an Dufrênes La Nuit de la pharmacie und Le Jour de la pharmacie (aus dem Jahre 1968) pinkig bunt, banal und uninspiriert, ist zu sehen, dass sich da die Décollage erschöpft hatte.
Die ästhetischen Prinzipien waren von Anfang eher statisch, die Variationsbreite keine sehr große und das Qualitätsspektrum recht überschaubar. Vor allem von Dufrêne sind in der Frankfurter Schirn eher zu viele, zu mäßige Arbeiten zu sehen.
Vielleicht ist die Gruppe der Affichisten ein Kollektiv der letzten nicht-ironischen, kunstmarktfernen Kunstrevolutionäre gewesen. Besonders bei Rotella deutete sich schon früh die aktuell, museal so gern ausgestellte Pop Art in ihrem grinsenden Objektfetischismus und mit ihrem Spiel mit der Oberflächlichkeit überdeutlich an.
Definitiv waren die Affichisten jedenfalls die letzten Bilderstürmer, die das Bild herunterrissen und selbiges dann doch als Tafelbild ehrten. (Alexander Kluy, DER STANDARD, 7./8.2.2015)