Klare Sichtverhältnisse sind auf der Berlinale momentan rar. Das gilt nicht nur für die Stadt, über der hartnäckig eine Nebeldecke hängt, sondern auch für die Leinwände der Kinosäle. In den triftigeren Wettbewerbsfilmen der vergangenen beiden Tage verliert sich der Blick im Zwielicht. Die Filmemacher verschleiern mit Filtern, Zerrlinsen und anderen Mitteln kunstvoll die Sicht, bis in ihre düsteren Erzählungen kein Sonnenstrahl mehr dringt.
"Gott sah das Licht, und es war gut, und er schied das Licht von der Dunkelheit", heißt es am Anfang von Pablo Larraíns El Club. Der Film spielt in Chile an einem Haus am Meer, in einer unaufhörlichen Dämmerung. Dort haust eine sonderbare Männertruppe mit Haushälterin abgeschieden vom Rest der Bevölkerung. Erst allmählich wird deutlich, dass es sich um ehemalige Priester handelt, die von der katholischen Kirche abgeschoben wurden: Männer mit pädophilen Neigungen und anderen Verfehlungen, die man nicht publik machen wollte. Das diffuse Licht ist auch jenes einer moralischen Grauzone.
Drama einer Verschleierung
Mit No! hat der Chilene Larraín 2012 von der Werbekampagne erzählt, die zum Ende des Diktators Pinochet geführt hat. In El Club spitzt er nun das Drama einer Verschleierung zu, das deshalb betört, weil es darin keine stabilen Positionen, keine Sicherheitsnetze gibt. Geschickt wechselt Larraín die Tonarten und stellt Szenen, die einer Komödie gut anstehen würden, neben solche, in denen sich der Abgrund tief empfundener Verletzungen auftut. Auch der rechtschaffene Priester, der angereist kommt, um für Ordnung zu sorgen, agiert nicht selbstlos. Larraíns Botschaft ist klar: Wo ein jeder Interessen verfolgt, kann es keine Sühne geben.
Trüb ist die Welt auch im Film des Russen Alexej German jr., einer 2017 angesetzten Dystopie - visuell mit das Eindrucksvollste, was die Berlinale bisher aufbot: Nebelgeschwängerte Brachen, in denen nicht nur gefallene Statuen einstiger Staatenlenker im Eis feststecken, sondern auch unfertige Wolkenkratzer im Nirgendwo enden, sie formen eine Karte, aus der sich drohendes Unheil herauslesen lässt. "Die Geschichte ist nicht zu Ende", heißt es einmal in Under Electric Clouds: Ganz richtig, sie schafft unaufhörlich neue Katastrophenbedingungen.
German jr. erstellt ein Kaleidoskop, das diese Ablöse von Mächtigen und Beherrschten in sieben Kapiteln veranschaulicht. Geschichtsbewusstsein quält Figuren wie eine alte Last. Die gleitende Kamera schält sie aus der Mise-en-scène, rückt sie in den Vordergrund, vom Migranten über den bourgeoisen Nachwuchs bis zum promovierten Touristenführer. Keiner ist in dieser Globalisierungsparabel auf dem richtigen Platz. Bleiern-schwermütige Lethargie liegt über diesem Szenario, kurz durchbrochen von absurdem Witz.
Kino der persönlichen Krisen
Kino der Krisen, das gibt es auch in der Forum-Sektion, wenngleich mehr ins Persönliche gewendet: Der erst 25-jährige Amerikaner Alex Ross Perrys empfiehlt sich mit Queen of Earth, seiner Studie um eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs, als einer der stilsichersten Filmemacher seines Landes. In einer Urlaubswoche an einem idyllischen See kippt eine Künstlerin (Elizabeth Moss, bekannt aus Mad Men) zunehmend in ein Wahnszenario. Seine Mittel setzt Ross Perry so präzis wie verstörend ein: Musik, Kamera, Schnitt - alles arbeitet hier zusammen.
Karl Markovics erzählt in Superwelt eine ähnlich gelagerte Geschichte um eine Supermarktkassiererin (Ulrike Beimpold). Auch sie gerät aus dem Takt, glaubt Stimmen zu hören, hält diese gar für den lieben Gott. Die unterschiedlichen Tonarten des Films, der zwischen Milieurealismus, komischen Einschüben und metaphysischen Spekulationen wechselt, kommen sich hier jedoch zunehmend in die Quere. (Dominik Kamalzadeh aus Berlin, DER STANDARD, 11.2.2015)