Pisa - In der Kathedrale von Otranto im italienischen Apulien blicken die blanken Totenschädel von hunderten Märtyrern von einem Seitenschiff auf die Kirchengemeinde herab - mit einer Ausnahme: Einer der Totenschädel zeigt den Gläubigen seine Oberseite, und die ist von zahlreichen Löchern übersät. Was es mit den insgesamt 16 perfekten kreisrunden Löchern auf sich hat, war bisher rätselhaft. Gino Fornaciari von der Universität Pisa präsentierte nun eine Erklärung für das Mysterium.

Seliggesprochen im Jahr 1771 und als Heilige anerkannt von Papst Franziskus am 12. Mai 2013 lagern die Gebeine der "Märtyrer von Otranto" bereits seit Jahrhunderten in der Kathedrale des Küstenortes am Absatz des italienischen Stiefels. Anfang August 1480 waren osmanische Streitkräfte unter dem Kommando von Gedik Ahmed Pasha an der Küste gelandet und hatten sogleich mit der Belagerung der Stadt begonnen. 15 Tage hielt Otranto stand, dann brach der Widerstand zusammen und die Stadt wurde von den osmanischen Truppen gestürmt.

Drei der fünf Nischen in der Kathedrale von Otranto, in denen die Überreste der "Märtyrer von Otranto" aufgetürmt wurden. (Zum Vergrößern klicken)
Foto: Gino Fornaciari/University of Pisa

Zu beinernen Wänden aufgestapelt

Der Legende nach wurden alle Männer über 50 Jahren getötet, Frauen und Kinder unter 15 Jahren kamen in die Sklaverei. Übrig blieben etwa 800 Männer, denen die Osmanen das Leben anboten, sofern sie sich dazu bereit erklärten, zum Islam überzutreten. Die Christen lehnten ab und wurden auf einem Hügel vor der Stadt hingerichtet. Später sammelte man ihre Gebeine ein und stapelte sie in der Kathedrale von Otranto zu fünf eindrucksvollen Knochen-Wänden auf, aus denen hunderte Schädel hervorblicken.

In einer der unteren Reihen im zentralen Fenster des Märtyrerschreins sticht allerdings einer der Köpfe hervor. Der Totenkopf präsentiert den Kirchenbesuchern seine Hinterseite, und diese ist von insgesamt 16 kreisrunden Löchern von unterschiedlicher Tiefe und Größe bedeckt. Acht der Löcher perforierten den Schädelknochen vollständig, die übrigen bildeten oberflächliche Mulden.

Insgesamt 16 kreisrunde Löcher weist der Schädel auf. Die Hälfte davon sind nur oberflächlich. (Zum Vergrößern klicken)
Foto: Gino Fornaciari/University of Pisa

Es sind gerade diese Unterschiede, die Gino Fornaciari und sein Team von der Universität Pisa schließlich auf die Ursache der Löcher brachte: "Die perfekt geformten Vertiefungen, die nicht bis ganz durch die Knochen gedrungen waren, lassen den Schluss zu, dass man hier mit einem speziellen Trepanierbohrer zu Werke gegangen war." Das Werkzeug hatte vermutlich eine halbmondförmige Klinge und war nicht dazu geeignet, kreisförmige Knochenscheiben auszuschneiden. "Vielmehr produzierte man damit feinsten Knochenstaub", erklärt Fornaciari.

Makabre Arznei

Und diese Substanz war es auch, um die es den Urhebern der Schädellöcher offenbar ging, wie die Forscher im "Journal of Ethnopharmacology" schreiben: "Zermahlene Schädelknochen von Heiligen oder Personen, die einen gewaltsamen Tod starben und nicht begraben wurden, waren bereits seit dem Mittelalter als Heilmittel von besonderer Potenz bekannt", erklärt Fornaciari. Damit dürfte der Totenkopf von Otranto nach Ansicht der Forscher ein einzigartiger Beleg für diese Praxis sein.

Erwähnt wird das makabre Heilmittel auch in einige alten Schriften. Der französische Chemiker Nicolas Lémery (1645–1715) beschreibt etwa in seinem "Pharmacopée universelle", wie Puder von menschlichen Schädelknochen gemeinsam mit Wasser eingenommen eine effektive Arznei gegen Lähmungen, Gehirnschlag, Epilepsie und Geisteskrankheiten darstellt. "Die Schädel von Menschen, die gewaltsam und plötzlich starben, galten als wirksamer als jene von Personen, die an Alterschwäche oder nach langer Krankheit im Bett dahinschieden. Und die Schädel von Heiligen waren besser als jene von Normalsterblichen", meint Fornaciari.

Die Löcher wurden nach Ansicht der Forscher um Gino Fornaciari mit einem Werkzeug zur Trepanation mit runder oder halbmondförmiger Bohrspitze erzeugt. Beispiele dafür finden sich in historischen medizinischen Werken.
Illustration: Gino Fornaciari/University of Pisa

Ein Geheimnis bleibt

Es sei also kein Wunder, dass man sich an einem der "Märtyrer von Otranto" bediente. Vermutlich bohrte man den Schädel zu jener Zeit an, als man die Knochen im Jahr 1711 in der Kathedrale hinter Glas zu den heute sichtbaren Wänden auftürmte. Ein Geheimnis wird der löchrige Schädel wohl auch in Zukunft bewahren: Die Forscher können sich nicht erklären, warum gerade bei diesem einen Totenkopf der "heilsame" Knochenstaub entnommen wurde. Fornaciari: "Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Schädel von einem Märtyrer stammt, der sich von den übrigen in seiner Bedeutung unterschied." (tberg, derStandard.at, 11.2.2015)