Wien - Es ist eine traurige Geschichte, über die Richterin Nicole Baczak entscheiden muss. Die 36-jährige Nicole C. sitzt vor ihr, eine HIV-positive Arbeitslose mit Drogenvergangenheit. Angeklagt ist sie, da sie im August 2014 mit einer Zufallsbekanntschaft im Prater ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte. Der in Wahrheit eine Vergewaltigung war, wie sie sagt.

Zehn Vorstrafen hat die zierliche Frau in den vergangenen 15 Jahren gesammelt. Diebstähle, Körperverletzungen, Drogendelikte. Mit sechs Katzen und einem Hund lebt sie auf 48 Quadratmetern, Verteidiger hat sie sich keinen genommen.

Mit zwölf, 13 Jahren hat sie begonnen, sich zu ritzen, erzählt sie leise der Richterin, zum Beweis kann sie der die Narben auf ihren Unterarmen zeigen. "Im Polizeiprotokoll steht, Sie haben immer die Klinge eines Stanleymessers dabei?", fragt Baczak. "Nein, nicht immer", hört sie als Antwort.

Wodka auf der Parkbank

Am 27. August sei sie jedenfalls auf dem Heimweg gewesen, als sie im Prater von einem Mann angesprochen worden sei, erzählt C. weiter. Er hatte eine Flasche Wodka und Plastikbecher dabei. "Das war mein Fehler. Ich habe getrunken, getrunken, getrunken."

Darum wisse sie auch nicht mehr, was danach passiert sei. Nur in einem ist sie sich sicher: "Ich hatte keinen freiwilligen Sex. Mir hat am nächsten Tag alles wehgetan." Allerdings: Bei einer Untersuchung wurden weder im Vaginal- noch im Analbereich Vergewaltigungsspuren entdeckt, das Verfahren gegen den Mann daher eingestellt.

Aus ihrer HIV-Infektion mache sie kein Geheimnis, beteuert sie. "Ich sage das spätestens nach drei Tagen. Und mit meinem letzten Freund habe ich immer mit Kondom verhütet, aber Schluss gemacht, weil ich Angst hatte, dass es reißt."

Trotz HIV ohne Medikamente nicht infektiös

Dann kommt eine überraschende Aussage: C. macht keine HIV-Therapie. "Im Spital sagen sie, dass meine Virenlast so gering ist, dass ich gar niemanden infizieren kann", sagt sie und legt den entsprechenden Befund vor. Stimmt das, wäre der Prozess hinfällig. Baczak will aber zunächst die Version des Mannes hören.

Und die ist diametral entgegengesetzt. "I bin mit ana Freundin auf der Bank gesessen, und mir ham trunken", sagt der 42-jährige Pensionist, nachdem er auf Krücken in den Saal gehumpelt ist. Leider ist die Freundin mittlerweile verstorben, kann also seine Aussage nicht bestätigen.

"Dann hob ich die Angeklagte angesprochen, die hat sich dazugsetzt." Sie habe erzählt, dass sie dringend Geld brauche. "Ihre Viecher ham nix mehr zu essen, hot sie gsogt." Man trank, ging von der Bank auf den Spielplatz, um zu schaukeln.

Oralsex für eine Jacke

Dort sagte sie plötzlich, ihre Jacke sei weg. Der Zeuge ging zurück zur Bank und holte sie. "Do hot sie sie gfreit. Und gsogt, sie blost ma an." Ein Angebot, das er ablehnte. "Des bringt ma nix, i woit schnackseln."

C. wollte dafür 20 Euro, behauptet er, er hatte nur zehn. Der Sex fand auf einem Tisch und auf dem Boden statt. Vaginal und anal. "Das wollte sie?", fragt Baczak. "Jo, sie hot si jo glei aufn Bauch glegt", lautet die Antwort. "20 Euro ist dafür aber schon ziemlich billig", wirft die Richterin ein. "Jo, des is billig." - "Saubillig."

Danach habe C. von Vergewaltigung zu schreien begonnen. Sie sei aggressiv geworden und mit den Fäusten auf ihn losgegangen. Er habe sie mit seinen Krücken zunächst weggedrängt, schließlich damit zugeschlagen. Ihre blauen Flecken sind dokumentiert.

Interessanterweise rief aber der Mann selbst die Polizei, nachdem die Angeklagte weggelaufen war. "I hob jo ned gwusst, wo i sie troffen hob, do wolltat i auf Numma sicha gehn."

Unter Vergewaltigungsverdacht wurde er zunächst einige Stunden festgehalten, nach der Untersuchung der Frau wieder freigelassen. Bei der Polizei erfuhr er auch von der Infektion der Angeklagten, die glücklicherweise nicht übertragen wurde.

Rechtskräftiger Freispruch

C.s letztes Wort ist ein Flüstern: "Ich bitte um eine milde Strafe", hat sie sich mit ihrem Schicksal schon abgefunden. Zu früh: Baczak spricht sie rechtskräftig frei. "Es ist ganz einfach so, dass ich Ihnen glaube und dem Zeugen nicht", begründet sie ihre Entscheidung. "Es gibt keinen Hinweis auf Prostitution. Und die Geschichte mit der Jacke und dem Sexangebot erscheint mir einfach weit hergeholt."

Einzig die Tatsache, dass der Zeuge selbst die Polizei gerufen habe, macht Baczak stutzig. Aber auch dafür hat sie eine Theorie: "Er hatte Angst wegen dem Vergewaltigungsvorwurf." (Michael Möseneder, derStandard.at, 13.2.2015)