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Sie bombardierten Reims und wir haben es gesehen!" Sich auf die Zeugenschaft des Auges berufen und schreiben: So begann am 21. September 1914 der Artikel eines Frontberichterstatters für die Pariser Zeitung Le Matin. Der Beitrag machte Karriere. Auf der ersten Seite platziert und - unüblich damals für Korrespondentenberichte - mit dem vollen Namenszug Albert Londres' versehen, wurde der Autor in Regierungskreisen bekannt.

In vorderster Reihe sollte er bald eine ministerielle Immediatdelegation zur Besichtigung der Kriegsschäden begleiten. Doch die Interesseneinheit mit den Repräsentanten des Staates hatte keine lange Zukunft.

Unabhängigkeit

Als Londres in den weiteren Kriegsjahren von der Front an den Dardanellen berichtet, werden viele seiner Beiträge zensiert; manche aus Korfu und aus Saloniki können überhaupt nicht erscheinen: Wie alle Kriegsberichterstatter hatte auch Londres eine dreiseitige Verpflichtungserklärung unterschreiben müssen, die ihn wie einen Armeeangehörigen dem Diktum des Militärs und dem Kodex seiner Gerichtsbarkeit unterstellt. Später konnte gar der Premierminister erwirken, dass die Redaktion ihren Mitarbeiter entlässt.

Das war 1919, und seither griff zweierlei ineinander: Albert Londres' Bestreben, unabhängig recherchieren und berichten zu können, sowie sein Ideal, die eigene Arbeit nicht nur über die Tagespresse, sondern auch über das Medium des Buches zu veröffentlichen.

Doch das gute Dutzend seiner Bücher, die er bis zu seinem frühen Tod 1932 geschrieben hatte, erfüllt weder - wenn man auf die inzwischen klassische Definition der Reportage bei Ryszard Kapuscinski zurückgreift - das traditionelle Genre des "von Anekdoten strotzenden Reportageromans" noch die moderne Form der Reportage mit ihrem "Essayisieren" der Anliegen.

Milieuskizzen

Nein, Londres hatte nichts von der literarischen Selbstverliebtheit, zu der nicht wenige seiner Kollegen, bürgerlich belesen und von Reflexion überladen, im Frankreich der Zwischenkriegszeit neigten. Vielmehr galt sein Interesse den Randständigen und Ausgegrenzten, den kollektiv wie singulär Leidtragenden.

Daher seine beunruhigenden Berichte über Strafkolonien in Guyana, über Irrenhäuser in Frankreich, über jüdische Ghettos in Mitteleuropa. Daher, als Titel seiner "Streckeneindrücke" von der Tour de France, die Kennzeichnung der Radrennfahrer als "forçats de la route", als Galeerensträflinge der Landstraße. Und daher seine aufrüttelnden Texte mit ihren häufig erdrückenden Milieuskizzen und Porträts, die nicht nur dem Autor und der Zeitung ein Massenpublikum sicherten, sondern im Einzelfall auch die Regierung in Paris zur Revision von Gerichtsurteilen, wenn nicht gar des gesamten Verbannungsstrafrechts veranlassten.

Im deutschen Sprachraum war Londres bereits um 1930 mit mehreren seiner Bücher präsent; sie waren unter anderem von Yvan Goll und von der engagierten Journalistin Milly Zirker übersetzt. In jüngster Zeit bemühen sich mehrere Verlage um eine Renaissance.

Texte werden erschlossen, die kaum etwas von ihrer einstigen Unmittelbarkeit verlieren, zumal die Diktion in ihren einfachen, teils kurzen Phrasen, ihrem ausgiebigen Gebrauch direkter Rede und der Selbstthematisierung des Berichterstatters einzigartig ist.

Dass die Übersetzer von heute gelegentlich meinen, durch saloppen Jargon aktualisieren zu müssen, dass sie die Bedeutungsvielfalt französischer Verbformen übergehen oder auch nicht wissen, Ansichten ("visions") von Bildern ("tableaux") zu unterscheiden, erscheint bedauerlich. Nur im Fall eines "Menschen, der entkam", Londres' Bericht über eine Flucht aus der Hölle des Bagno, ist die historische Fassung von 1928 weiterhin zugänglich. (Hendrik Feindt, Album, DER STANDARD, 14.2.2015)