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Frauenmilizen gibt es auch bei der Hamas (im Bild ein Trainingslager im Gazastreifen). Die IS setzt in Raqqa eine Frauenbrigade für Polizeiaufgaben ein.

Foto: Picturedesk/AP Photo/ Tara Todras-Whitehill

STANDARD: Mehrere Tausend junge, im Westen aufgewachsene Muslime sind in den vergangenen Jahren aus Europa und den USA nach Syrien und in den Irak gereist. Was wollen sie dort?

Brown: Sie sind auf der Suche nach einer religiösen und politischen Utopie. Dazu dient der Jihad, der gewalttätige Kampf für das Kalifat, den Staat nach islamischen Regeln. Es geht aber auch um das ganz normale Leben, also Familie gründen, Kinder erziehen, in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten - ein Leben in einer Schutzzone gegen die feindselige, gewalttätige Welt.

STANDARD: Flucht aus dem vergleichsweise friedlichen Westen in eine Bürgerkriegszone, um der Gewalt zu entgehen?

Brown: Das hat mit einer völlig anderen Wahrnehmung zu tun. Viele junge Muslime leben in dem Glauben, westliche Gesellschaften stünden ihnen und dem Islam feindselig gegenüber. Die Debatte um Kopftuch und Gesichtsschleier, der Streit um die Mohammed-Karikaturen. Dazu die Aufforderung der britischen Regierung, die Universitäten sollten radikale Studierende im Auge behalten - all das trägt zur Entfremdung bei. Junge Leute, egal welcher Einstellung, neigen ja ohnehin zu einem klaren Verständnis von Richtig und Falsch, von Schwarz und Weiß.

STANDARD: Radikale junge Muslime fühlen sich also aus dem Westen verdrängt.

Brown: Ich würde das einen "Push-Faktor" nennen. Hinzu kommen natürlich die "Pull-Faktoren", also die Anziehungskraft der Utopie. Die Rede ist von einem ideologisch reinen, multi-ethnischen Gottesstaat. "Nur auf deinen Glauben kommt es an", wird propagiert.

STANDARD: Die Jihadistenorganisation "Islamischer Staat" (IS) wird in der arabischen Welt meist Daesh genannt. Welchen Namen benutzen Sie eigentlich?

Brown: Als diese Diskussion aufkam, war mein erster Gedanke: Lasst uns doch bei IS bleiben. Erstens wissen wir, was gemeint ist. Zweitens macht dieser Name deutlich, dass es um mehr geht als um eine antiwestliche Terrortruppe. In der IS-Zone wird Schutz gewährt, die Religion gibt den Ton an. Wer auf Gottes Geheiß jeder Minute seines eigentlich sehr durchschnittlichen, sogar langweiligen Lebens einen Wert beimisst, dessen Leben bekommt plötzlich einen neuen Sinn. Die Attraktivität dieser Propaganda unterscheidet IS von Gruppen wie Boko Haram oder Al-Kaida.

STANDARD: Oder ist es ganz banal die romantische Vorstellung von einem Abenteuertrip?

Brown: Das spielt gewiss auch eine Rolle: Die Befreiung aus den heimischen Zwängen, der durch den Ortswechsel nach außen demonstrierte Übergang ins Erwachsenenleben. Dazu kommt die Vorstellung, an etwas Aufregendem, Neuem beteiligt zu sein. Ich fühle mich manchmal an junge Kommunisten erinnert, die in den 1920er-Jahren in die Sowjetunion auswanderten.

STANDARD: Oder religiös inspirierte jüdische Siedler in der palästinensischen Westbank.

Brown: Richtig. Viele der IS-Reisenden sehen neben dem Westen übrigens auch andere Muslime wie etwa die Schiiten oder in Syrien vor allem die Alawiten als Feinde an. Es geht um die Frage: Wer soll die islamische Welt führen? Da wird das Scheitern im Irak spürbar, die Feindseligkeit der unterschiedlichen Strömungen auszuräumen.

STANDARD: Ihre Forschung konzentriert sich besonders auf junge Frauen. Von welcher Größenordnung sprechen wir?

Brown: Viele hierarchische Organisationen wie die IS weisen die gleiche Struktur auf: Etwa zehn Prozent der Mitglieder sind Frauen. Genaue Zahlen gibt es natürlich nicht, nur Schätzungen. Aus Großbritannien sind etwa 50 bis 60 im Bürgerkriegsgebiet, aus ganz Europa dürften es insgesamt 200 bis 300 sein.

STANDARD: In den Medien ist von "Jihad-Bräuten" und "Sex-Sklavinnen" die Rede.

Brown: Das muss man natürlich differenzierter sehen. Der Islamische Staat hat ausdrücklich Familien und Ehepaare zur Migration aufgefordert. Es gibt Fälle junger Frauen aus dem Westen, die für eine arrangierte Hochzeit nach Syrien gereist sind. Man sollte das auch nicht lächerlich machen. Schließlich spielt auch hier die Vorstellung eine Rolle: Ich will ein ehrenhaftes, reines Leben führen, in einem islamischen Land unter der Scharia-Gesetzgebung.

STANDARD: Die Witwe eines der Terroristen, die im Juli 2005 Selbstmordanschläge auf die Londoner U-Bahn verübten, soll britischen Ermittlern zufolge als Finanzierin und Quartiermeisterin für das somalische Terrornetzwerk Al-Schabab tätig sein. Sind auch andere Frauen am gewalttätigen Kampf beteiligt?

Brown: Einige stellen sich jedenfalls selbst so dar. Im Blog einer malaysischen Ärztin hieß es: "Ich habe mein Stethoskop und meine Kalaschnikow, was brauche ich mehr?" Die IS hat eine Frauenmiliz aufgestellt, die Brigade al-Khansaa.

STANDARD: Deren Propagandaabteilung ist für ein Manifest verantwortlich, in dem die Rolle der Frau im Gottesstaat beschrieben wird: Heirat schon mit neun, spätestens aber mit 16 oder 17 Jahren, eine begrenzte, auf Religion und Scharia-Gesetze beschränkte Schulbildung, ein Leben für Kinder und Haushalt, aber keine Erwerbstätigkeit.

Brown: Ein sehr interessantes Dokument, weil es ausdrücklich nur auf Arabisch veröffentlicht wurde. Normalerweise werden IS-Papiere in viele andere, vor allem westliche Sprachen übersetzt. Dieser Schriftsatz wendet sich folglich vor allem an Frauen auf der arabischen Halbinsel und setzt sich in Konkurrenz zu den islamischen Autoritäten in Saudi-Arabien. Ich habe keine zusätzlichen Erkenntnisse, aber mein Gefühl sagt mir: Da könnten Spannungen zum Vorschein kommen zwischen den Einheimischen und zugereisten Gotteskämpfern aus dem Westen.

STANDARD: Woher beziehen Sie Ihre Informationen?

Brown: Im Wesentlichen aus den sozialen Medien. Der Einfluss dieser virtuellen Netzwerke ist erheblich. Ich habe ganz passable Arabisch-Kenntnisse, wenn mir auch die Feinheiten des Street-Slangs manchmal fehlen. Aber interessanterweise sprechen ja viele der Reisenden gar kein Arabisch, ihre Sprache bleibt Englisch. Auf Twitter oder LinkedIn, aber auch in Blogs tauschen sich viele junge Frauen aus über ihr Leben, über ihre positiven Erlebnisse ebenso wie über das, was schiefgeht.

STANDARD: Aber bilden soziale Medien denn die Wirklichkeit ab?

Brown: Nein, die stellen natürlich immer eine bereinigte Fassung dar. Mir stellt sich schon oft die Frage: Ist das wirklich wahr? Die Verifizierung bleibt schwierig. Zudem nutzt der Islamische Staat die sozialen Netzwerke ganz klar zu Propagandazwecken. Da wird der Jihad und das Leben nach strengen islamischen Gesetzen idealisiert. Aber es geht auch um ganz praktische Dinge, Reisehinweise, moralische Unterstützung und Ratschläge.

STANDARD: Zum Beispiel?

Brown: Da wird darüber Klage geführt, dass ein Leben ohne Waschmaschine ganz schön anstrengend sein kann. Oft klappt das Zusammenleben der Zuzügler aus dem Westen mit den Einheimischen nicht sonderlich gut. Das macht den Austausch mit Frauen, die sich in der gleichen Situation befinden, doppelt wichtig.

STANDARD: Konnten Sie auch persönlich mit jungen Jihadistinnen sprechen?

Brown: Ich selbst kann nicht in die einschlägigen Gebiete reisen, dafür findet meine Universität keine Versicherung. Vor allem aber ist die britische Rechtslage schwierig. Ich könnte Gesprächspartnerinnen keinen Quellenschutz anbieten, weil ich unter der Anti-Terror-Gesetzgebung zur Auskunft über möglicherweise "nützliche Informationen" verpflichtet wäre. Da dieser Begriff nicht näher definiert ist, können die Strafverfolger damit machen, was sie wollen. Das ist mir zu riskant.

STANDARD: Was halten Sie von Regierungsprogrammen, die helfen sollen, eine Radikalisierung junger Muslime zu vermeiden?

Brown: Es besteht natürlich die Gefahr, alle Muslime über einen Kamm zu scheren. Man erreicht schnell das Gegenteil von dem, was geplant war. Dabei kommt es auf die Zusammenarbeit mit gemäßigten Muslimen an. Den Moscheen fällt die wichtige Aufgabe zu, ihre Religion korrekt zu interpretieren. An Schulen würde ich den Religionsunterricht verbessern, und zwar mit Betonung auf einer kritischen Auseinandersetzung: Welche Vorstellungen stecken dahinter? Welche Quellen gibt es? Wie zuverlässig sind sie? Unsere Gesellschaft sollte Platz schaffen für solche Debatten.

STANDARD: Die Sicherheitsbehörden warnen vor radikalisierten Heimkehrern aus Syrien und dem Irak. Kann man Terrortouristen nicht ausbürgern und ihnen die Wiedereinreise verweigern?

Brown: Das hielte ich für barbarisch und eine Tragödie. Wir dürfen diese jungen Leute nicht abschreiben. Natürlich ist die Hinwendung zum Islamischen Staat ein Fehler. Aber ich befürworte Rehabilitation, nicht Ausgrenzung. Wir wollen doch das Signal geben, dass junge Muslime in Europa eine Zukunft haben. (Sebastian Borger, DER STANDARD, 14.2.2015)