Ayo in Raoul Pecks Haiti-Kammerspiel "Meurtre à Pacot".

Foto: R. Stephenson / Berlinale

Berlin - Die Farbe entscheidet über das weitere Schicksal. Wer eine grüne oder gelbe Markierung auf sein Haus gemalt bekommt, darf einstweilen noch bleiben, wer mit einem roten Zeichen bedacht wird, muss sein Zuhause schleunigst räumen. Der Mann (Alex Descas) und seine Frau (Ayo), die in diesem Film nie einen Namen bekommen werden, haben Glück: Der Baukommissar lässt sie weiter in ihrer Villa am Rand von Port-au-Prince wohnen.

Doch Geld muss fließen nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti, und das eben noch wohlhabende Ehepaar vermietet seinen einzigen noch bewohnbaren Raum dem weißen Entwicklungshelfer Alex (Thibault Vinçon) und zieht in die Baracke des verschwundenen Dienstboten. Früher hätte ihr Heimatdorf ein paar wenigen gehört, meint Alex' Geliebte, eine junge Haitianerin, die ihn als Vertreter eines neuen Kolonialismus insgeheim verachtet, heute gehöre es allen. Aber haben die Reichen tatsächlich mehr zu verlieren als die Armen, für die das Wenige alles bedeutet?

Meurtre à Pacot des haitianischen Filmemachers Raoul Peck ist ein präzise inszeniertes Kammerspiel im Trümmerfeld, das davon erzählt, wie alte Ordnungen schlagartig aufgelöst werden, vor allem aber die eigene Identität infrage gestellt wird. Je mehr das Paar sich emotional voneinander entfernt, desto stärker werden Selbstzweifel und Selbsthass.

Von zunehmender Entfremdung handelt auch Viaggio nella dopo-storia (Journey into Post-History) von Vincent Dieutre, der die Schwierigkeiten einer Neuverfilmung von Roberto Rossellinis Viaggio in Italia auslotet. Dafür schlüpft Dieutre in die Rolle von Ingrid Bergman, während die Rolle von George Sanders von Simon Versnel übernommen wird. Die Ehekrise, die bei Rossellini das Paar während seiner Italien-Reise auszuverhandeln hat, betrifft mithin zwei schwule ältere Herren, deren Lebensentwürfe nicht mehr zusammengehen. Dieutre platziert seinen Film zwischen persönlicher Hommage und reflexivem Remake und macht deutlich, wie stark die Suche nach neuer Identität mit jeweiligen Orten verknüpft sein kann: Die Reise nach Italien wird zu einer in die Vergangenheit, die in dieser Form bloß in unserer Erinnerung existiert.

Während Dieutre Einsamkeit mit melancholischer Reminiszenz verbindet, zeigt der Spanier Juan Rodrigáñez in Der Geldkomplex deren surreale Seite. Die Frauen und Männer, die sich in einer Finca eingefunden haben, wohnen zwar unter demselben Dach, sind aber dennoch allesamt vom Gefühl der Deplatziertheit erfüllt. Der Alltag der Gruppe ist bestimmt von den Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die das Land so wenig abschütteln kann wie die Menschen ihre absurd-komischen Handlungen: Während der eine in einer geheimen Goldmine schürft, verliert sich die andere in narzisstischen Auftritten.

Hundert Jahre nach Erscheinen von Fanny zu Reventlows gleichnamigem Roman, auf dem dieser Film basiert, zeigt Der Geldkomplex aber auch, wie sich manche Dinge nie ändern: Um sich wirklich einsam zu fühlen, braucht es immer jemand anderen. (Michael Pekler aus Berlin, DER STANDARD, 16.2.2015)