Kann ein Videospiel "essenziell" sein?

Screenshot: Eurogamer

Die britische Seite eurogamer.net (und deren Tochter eurogamer.de) sorgte in den vergangenen Tagen mit der Entscheidung für Aufsehen, das altbewährte Zehn-Punkte-Wertungssystem aufzugeben. Nach dem US-Blog "Kotaku" und dem mittlerweile eingestellten Newsportal "Joystiq" ist es die dritte namhafte Branchenseite, die sich gegen die numerische Beurteilung ausspricht. Viel Wasser ist seither die Donau hinabgeflossen, und diverse Stimmen haben sich bereits zu dem Thema geäußert.

Spannend waren dabei folgende Reaktionen zu verfolgen: 1. "Eurogamers" doch sehr spezifische Leserschaft hat die Entscheidung zu großen Teilen positiv aufgenommen. 2. Viele Journalisten stellten infrage, ob "Eurogamer" und "Kotaku" das traditionelle Wertungssystem wirklich aufgegeben oder es in Wahrheit nicht einfach durch ein nur äußerlich anders anmutendes, jedoch ebenfalls quantifizierbares System ausgetauscht haben.

Der Drang zur Empfehlung

"Eurogamer" ist tatsächlich ein interessanter Fall. Denn anstelle von 1 bis 10 werden Games nun in "Avoid" (vermeiden), "ohne Wertung", "Recommended" (empfohlen) und "Essential" (essenziell) kategorisiert. (Eurogamer.de schreibt statt "essentiell" etwas glücklicher formuliert "herausragend".) Statt 1 bis 10 gibt es nun also 1 bis 4, wenn man so will. Damit verzichtet man künftig darauf, auf Zugriffe bringenden Rezensionsaggregatoren wie "Metacritic" vertreten zu sein, die Spieletests von diversen Publikationen sammeln und in 1 bis 10 vereinheitlichen – egal ob die Seiten von 1 bis 5 oder von 1 bis 100 zählen.

Gleichzeitig wollen "Eurogamers" Herausgeber aber nicht auf Klicks von Google verzichten und geben bei den Suchergebnissen eine Sternebewertung von 1 bis 5 aus. Wodurch der gesamte Ausstieg aus der numerischen Wertung ganz offiziell ad absurdum geführt wird. Auf eurogamer.net wird ein Spiel nun mit "recommended" beurteilt, bei Google steht dann trotzdem 4/5.

"Kotaku" nutzt bereits seit längerer Zeit ein noch radikaleres System. Games werden nur noch in "Yes" und "No" oder "Not Yet" eingeschlichtet und damit entweder zum Kauf empfohlen oder vom Erwerb abgeraten – mit zusätzlichen Begründungen. Statt 1 bis 10 gibt es also 1 bis 2 (und 1 mit Sternchen).

Wieso und warum?

Bei der Begründung sind sich die Redaktionen in vieler Hinsicht einig: Es geht darum, aus der Wertungsspirale auszubrechen, die von den Forendiskussionen ("Warum hat dieses Superspiel eine 6/10 bekommen?") bis zu den Bonuszahlungen für Entwickler (der "Metacritic"-Effekt) alle Bereiche der Branche erfasst hat. Es ist ein Zustand, der sowohl die inhaltliche Debatte behindert als auch die Produzenten in Geiselhaft nimmt. Denn, wie kürzlich Take-Two-Chef Strauss Zelnick in einem Interview mit Bloomberg klipp und klar erklärte, hängt die durchschnittliche Spielbewertung heute mit dem Erfolg eines Werks zusammen. Diese ominöse 8/10 (ein "Gut" in der Schule) als Mindestmaß spielt also nicht nur für den skeptischen und über Jahrzehnte wertungsgeschulten Kunden, sondern auch für die Konzerne eine wesentliche (finanzielle) Rolle. Das führt wiederum dazu, dass Herausgeber sehr oft auf Nummer sicher gehen und Kunden nur das bekommen, was sie sowieso kaufen würden. Kurzum: Es hemmt die Risikobereitschaft und die inhaltliche Vielfalt.

Augenauswischerei

Zu vermuten ist aber, dass auch "Kotakus" und "Eurogamers" neue Systeme nichts an diesem laut ihrer Begründung durch Wertungen mitverschuldeten Teufelskreis ändern werden, nur weil die Bezeichnung geändert wurde. Denn anstelle der ehemaligen Kaufempfehlungen 8, 9 und 10 fungieren nun halt "Yes" und "Recommended" sowie "Essential" als Kaufempfehlungen. Würde man wirklich aus der Wertungsspirale aussteigen wollen, müsste man auf jegliche singuläre Wertung verzichten. So, wie es Publikationen wie "VG247" (oder auch der GameStandard) pflegen. Alles andere ist Augenauswischerei.

Das grundlegende journalistische Problem mit singulären Wertungen ist nämlich – egal ob Punkte, Sterne oder Medaillen –, dass sie den Lesern "Objektivität" vorgaukeln, wo keine Objektivität herrscht. Wie mittlerweile zahlreiche große Branchenseiten in ihren Richtlinien festhalten, sind Games-Rezensionen auch im besten Fall eine zwar umsichtige und gewissenhafte, aber subjektive Einschätzung eines Testers und können somit niemals für die Allgemeinheit sprechen. Insofern wiegen ein "Essential" oder ein "Yes" noch schwerer und sind so vielleicht sogar noch weniger angebracht als eine interpretierbare 10/10. Es gibt Millionen Wenn und Abers, kein einziges Werk ist perfekt, und kein einziges Videospiel dieser Welt ist essenziell.

Die Vielfalt macht es

Was sich jetzt vielleicht so liest wie eine Abrechnung mit Spielwertungen, ist jedoch kein Versuch, das System generell zu verurteilen. Jeder darf werten, egal was und in welchen Kategorien. Bewertungen machen wahnsinnig viel Spaß, selbst wenn es nur um den Geschmack einer Pizza oder die Einschätzung einer Partystimmung geht. Menschen verstehen Wertungen und fühlen sich wohl dabei, zu simplifizieren. Nur sollte man kein Hehl daraus machen.

Vielleicht reicht ja schon die Umwandlung etablierter und oft kommerziell missbrauchter Wertungssysteme, um Veränderungen hervorzurufen. Vielfalt kann einer auch in dieser Hinsicht sehr konservativen Branche bestimmt nur helfen. Also warum nicht Kirschen und
Bananen verteilen oder gleich plakativ den "Value"-Aspekt hervorheben und einem Spiel einen Wert von 40 Euro von 60 Euro Kaufpreis aussprechen? Wenn Kirschen und Bananen dabei helfen, die Debatte auf inhaltliche Punkte zu lenken, warum nicht. Aber einfach nur die Bezeichnung etablierter Systeme zu ändern wird keine Revolution herbeiführen können.

Warum keine Wertung?

Dass der GameStandard zur Gänze auf Wertungen verzichtet, macht seine Einschätzungen nicht besser als andere Rezensionen – subjektiv sind sie mit oder ohne Stempel. Und es wäre nicht aufrichtig, würden wir behaupten, dass wir bei diesem Verzicht total selbstlos agieren – schließlich wollen wir damit auch erreichen, dass unsere Rezensionen und Argumente gelesen und nicht bis zur "alles entscheidenden Zahl" übersprungen werden. Reduzieren Sie unsere in teils tagelanger Arbeit erschufteten Rezensionen bitte wenigstens auf den Titel, das Fazit und ihr eigenes Posting und nicht auf eine Zahl!

Gleichzeitig sind wir der Meinung, dass die Reduktion so komplexer Inhalte auf ein alleinstehendes Wertungssymbol keinem Videospiel gerecht wird. Wenn uns Games Spaß machen, formulieren wir das, und wenn sie uns nicht gefallen, verschweigen wir es ebenso nicht. Aber wir werden auch in Zukunft Games keine Stempel aufdrücken, die Allgemeingültigkeit suggerieren. Denn manchmal werden Sie unserer Meinung sein und manches Mal auch nicht. Letztendlich können Rezensionen nur inhaltliche Kritik und maximal Entscheidungshilfen für Konsumenten sein. Und im Zweifelsfall ist es immer noch sinnvoller, Argumente abzuwägen als Zahlen, Sterne, Buttons oder Kirschtomaten. (Zsolt Wilhelm [auf Twitter], derStandard.at, 17.2.2015)