Ein beispielloser Exodus aus dem Kosovo, der überwiegend von Albanern bewohnten einstigen serbischen autonomen Provinz, sorgt für Schlagzeilen. Mithilfe von Schleppern gelangen tausende Kosovaren illegal über die Grenze von Serbien nach Ungarn, um sich auf den Weg nach Österreich und in erster Linie nach Deutschland zu machen.

Rund fünfzehn Jahre nach der Nato-Intervention zur Rettung der Kosovaren aus dem tödlichen Griff des Milosevic-Regimes und sieben Jahre nach dem historischen Beschluss des Parlaments in Pristina über die Gründung der Republik Kosovo wurde der neue Staat mit rund 1,8 Millionen Einwohnern bereits von 109 Staaten (darunter von 18 der 25 EU-Staaten) anerkannt. Das Land, etwas kleiner als Oberösterreich, gilt als das Armenhaus Europas, und die bescheidenen Wirtschaftserfolge etwa im Vorjahr (Industrieproduktion plus zehn Prozent, BIP plus fünf Prozent) müssen vor dem Hintergrund der drückenden Armut eines Drittels der Bevölkerung und einer Arbeitslosigkeit von 40 Prozent gesehen werden.

Meine Gespräche im Herbst 2013 in Pristina und Prizren vermittelten mir allerdings damals trotz wuchernder Korruption und Beschwerden über den verkrusteten Machtapparat den Eindruck eines beginnenden Aufbruchs, vor allem wenn verglichen mit der düsteren Zeit der Unterdrückung im jugoslawischen Staatsverband.

Was ist geschehen? Wie erklärt man die Umwandlung der Quantität von der tief verwurzelten Perspektivlosigkeit in die Qualität einer so dramatischen Massenflucht? Paradoxerweise spielte der Erfolg bei der Normalisierung der Beziehungen mit Serbien, nämlich das Abkommen, wonach Kosovaren nunmehr mit einem Personalausweis die Grenze von Kosovo nach Serbien überschreiten dürfen, eine wichtige Rolle. Die freie Fahrt zur Subotica, wenige Kilometer vor der ungarischen Grenze, gibt den Schleusern die Chance, für 250 Euro bis 500 Euro pro Kopf, ganze Familien über die "grüne Grenze" nach Ungarn zu bringen. Oft wirken auch die bestochenen serbischen und ungarischen Polizisten mit.

Ein weiterer Grund für die Ausreisewelle ist die Tatsache, dass nach der Parlamentswahl im Sommer 2014 mehr als sechs Monate ein Schwebezustand herrschte und erst unter dem starken Druck der EU und der USA eine Koalitionsregierung der erbitterten Gegner gebildet wurde. Die tiefe Enttäuschung über die korrupten Praktiken der politischen Elite und die erhoffte, aber ausgebliebene Wende dürften auch den Auswanderungsdruck erhöht haben. Bei dem Schneeballeffekt der Fluchtpsychose muss man freilich auch daran erinnern, dass das Kosovo die jüngste Bevölkerung in Europa aufweist; jeder Zweite ist jünger als 25 Jahre.

Es gibt nur Schätzungen, wie viele Kosovaren nach Deutschland unterwegs sind; die Zahlen reichen seit Jahresbeginn von 30.000 bis 50.000. Bis zum vorigen Donnerstag registrierten die deutschen Behörden mehr als 18.000 Menschen aus dem Kosovo. Warnungen der deutschen und österreichischen Regierungen, dass Flüchtlinge nicht anerkannt würden, weil der Kosovo eine funktionierende Demokratie sei und sie deshalb umgehend abgeschoben werden, zeigen bisher jedenfalls keine große Wirkung. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 17.2.2015)