Bei den Grabungen ab 2005 im niederösterreichischen Tulln an der Donau wurden allerlei mehrere Jahrhunderte alte Relikte gefunden. Nun analysieren Archäologen der Uni Wien die Funde und rekonstruieren so das mittelalterliche Wirtschaftsgefüge der Stadt.

Foto: BDA/Scholz

Tulln - Die Gelegenheit hätte kaum besser sein können: 2005 startet in Tulln an der Donau eine Serie von Baumaßnahmen. Insgesamt kommen 40.000 Quadratmeter unter die Schaufel, darunter der Hauptplatz im Stadtzentrum. Man hat es bereits geahnt: Der Untergrund ist voll von Zeugnissen vergangener Zeiten. Nun schlägt die Stunde der Archäologen.

"Die untersuchten Flächen sind einmalig", sagt die Forscherin Ute Scholz von der Universität Wien. Sie und ihre Kollegen brauchen mehrere Jahre, um alles auszugraben, zu bergen und zu dokumentieren. Das Team entdeckt römische Gräber aus der Zeit, zu der Tulln noch Comagensis hieß, ein Dromedarskelett aus dem 17. Jahrhundert - das Tier war vermutlich mit dem türkischen Invasionsheer nach Österreich gekommen - sowie barocken Schmuck und viele andere faszinierende Artefakte. Aus wissenschaftlicher Sicht sind allerdings die weniger spektakulär aussehenden Funde oft die interessanteren. Gebäudereste und Abfälle zum Beispiel oder gar seltsame Löcher im Erdreich.

Eine Art Gewerbegebiet freigelegt

Eines der Grabungsareale befindet sich auf dem Gelände der Alten Feuerwehrschule und einem angrenzenden Terrain. Im Mittelalter lag dieser Bereich außerhalb der Tullner Stadtmauern. Bebaut war er dennoch. Anscheinend stellte diese Vorstadt eine Art Gewerbegebiet dar. Die Archäologen stoßen hier unter anderem auf neun verschüttete Keramikbrennöfen. Die meisten haben eine Bodenplatte aus festem Lehm, vermischt mit Kies und Scherben. In einem der Öfen besteht diese sogenannte Zunge indes aus eingelassenen, mit Lehmmasse verstrichenen Töpfen. Eine besondere Innovation? Man weiß es noch nicht, sagt Scholz. Vielleicht zielte diese Bauweise darauf, die Struktur des Ofenbodens zu festigen, oder sie ermöglichte eine bessere Wärmespeicherung.

Die Spuren des Töpferhandwerks finden sich auch in mehreren Abfallgruben. Sie enthalten reichlich Bruch und Ausschussware. Offenbar wurden nicht nur allerlei Gefäße produziert. Pferde- und Menschenfiguren sind auch vertreten. Die Statuetten dienten womöglich als Schachfiguren.

Mittelalterliches Tulln war wichtiges Geschäftszentrum

Wie viele Einwohner das mittelalterliche Tulln hatte, lässt sich heute nicht genau ermitteln. Die Stadt war allerdings ein wichtiges Geschäftszentrum, die Donau als Fernhandelsweg war ihr Wirtschaftsmotor. Um die sozioökonomischen Aspekte des damaligen Alltags genauer zu ergründen, nimmt Scholz vor allem den Hauptplatz unter die Lupe. Hier fand schon vor rund 800 Jahren der Markt statt. Die Ausgrabungen an sich sind zwar längst abgeschlossen, nun müssen sämtliche Funde und Befunde in ihrem Kontext analysiert werden. Der Wissenschaftsfonds FWF finanziert die Studien.

Die auffälligste Struktur, die sich unter dem Hauptplatz verbarg, ist ein riesiger Kalkbrennofen. Die Wissenschafter haben ihn auf Mitte des 14. Jahrhunderts datiert. Er zeugt vermutlich von einer umfassenden Neugestaltung des Marktes und seines Umfelds. Holzbauten wurden durch Mauerwerk ersetzt - dazu bedurfte es großer Mengen Kalkmörtel. Offensichtlich war es praktisch, diesen direkt an Ort und Stelle zu produzieren. Die Anordnung zum Umbau kam wohl von ganz oben, meint Scholz, eine zentral koordinierte Maßnahme.

Rätselhafte Feuerstellen

Die besagte Brennanlage ist gleichwohl nicht die einzige ehemalige Feuerstelle auf dem Marktplatz gewesen. Die Experten konnten mehrere Dutzend einfache Erdöfen nachweisen. Die Einrichtungen verfügen über runde Brenngruben mit einem Durchmesser von ein bis anderthalb Metern und einem langen Schürkanal. Es scheint, als ob diese Öfen nur einmal benutzt wurden. Nach Gebrauch füllte man sie mit Unrat und Erde wieder auf. Ihre Funktion ist bislang rätselhaft. Scholz glaubt, dass die temporären Feuerstellen an Feiertagen für die Zubereitung spezieller Speisen oder Getränke in Kesseln dienten. Leider ist hierzu nichts überliefert.

Vielleicht grillten mittelalterliche Straßenköche ganze Schweine am Spieß über den Glutgruben oder Fische auf dem Rost. Die Erdöfen gab es nicht nur auf dem Markt. "Sie kamen in der ganzen Stadt vor" und wurden auch anderswo in Österreich gefunden.

Besser ist die Datenlage in Bezug auf die Verkaufseinrichtungen auf dem Platz. Eine große Fläche wurde demnach permanent freigehalten. Dieses Areal dürfte das Territorium der Gemüsehändler, Obstverkäufer und Anbieter sonstiger bäuerlich hergestellter Lebensmittel gewesen sein.

In benachbarten Bereichen stießen die Archäologen hingegen auf unterschiedliche Löcher im Boden. Einige davon entstammen wohl Zeltstangen, andere wiederum permanenteren Strukturen. "Bestimmte Postensetzungen geben Hinweise auf Tische", sagt Scholz. Mithilfe schriftlicher Quellen lassen sich solche Verkaufsstände mit Warengruppen in Verbindung bringen. "Auf Tischen wurden nur Fleisch, Fisch, Brot, Schuhe und Tuch verkauft."

Vorschriften für Fleisch

Der Fleischhandel unterlag festen Vorschriften, zumindest seit der Ausrufung der Tullner Fleischhauerordnung im Jahr 1267. Das fünf Richtlinien umfassende Schriftstück ist eine der ältesten bekannten Handwerksverordnungen Österreichs. Punkt vier be-trifft die Geschäftsbeziehungen zwischen christlichen und jüdischen Fleischhauern. Erstere waren offenbar auch als Zwischenhändler für Schlachtvieh tätig. Beim Verkauf eines lebenden Tieres durften sie von den Juden einen zehnprozentigen Aufschlag verlangen. Der wahrscheinliche Hintergrund: Auch nach dem koscheren Schlachten dürfen Blut und bestimmte Teile des Tierkörpers laut jüdischer Speisevorschriften nicht verzehrt werden. Diese Ware verkaufte man gerne an Christen und trat so in Konkurrenz zu den Fleischhauern aus deren Glaubensgemeinschaft. Der Aufpreis sollte dies wohl ausgleichen.

Die Grabungen auf dem Marktplatz brachten Aufschluss über die dort verkauften Fleischsorten. In der ehemaligen Schotterauflage fanden sich verdächtige Knochensplitter - just dort, wo einst die Verkaufstische standen. Archäozoologischen Analysen zufolge war nicht etwa Schweinefleisch der Verkaufsschlager, sondern Rind. Ganz anders als im heutigen Österreich. Weitere Untersuchungsergebnisse werden demnächst veröffentlicht. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 18.2.2015)