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Alexis Tsipras und Pablo Iglesias - politische Verbündete.

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Viele Lateinamerikaner erleben mit dem Aufstieg von Syriza und Podemos ein Déjà-vu.

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Politologen unter sich. Chantal Mouffe traf kürzlich auf Podemos-Chef Pablo Iglesias. Beide lehnen den derzeitigen Finanzkapitalismus ab.

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Selten ist die neue Regierung eines Mitgliedslandes bei den EU-Mächtigen auf derart schroffe Ablehnung gestoßen wie die griechische. Speziell in den deutschsprachigen Ländern werden der 40-jährige Linkspopulist Alexis Tsipras und sein Team abwechselnd als frech und arrogant, dann wieder als "halbstark" und ahnungslos charakterisiert. Die Negativbewertungen reichen von offenen Krägen und losen Hemdzipfeln bis zum Vorwurf, eine Gefahr für Europa zu sein. Er habe den Eindruck, die vom Linksbündnis Syriza geführte griechische Regierung wolle "das Volk aufwiegeln", sagte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble.

Lateinamerikakenner erleben dieser Tage ein Déjà-vu nach dem anderen. An den Amtsantritt des Linkspopulisten Rafael Correa 2007 in Ecuador fühlt sich Sebastian Schoepp erinnert, ein Außenpolitikredakteur der "Süddeutschen Zeitung". Als Ähnlichkeiten nennt er "das smarte Auftreten, die zum Autoritarismus neigende Forschheit, die kritische Haltung zu gängigen wirtschaftspolitischen Dogmen". Dazu komme die "fast pubertäre Lust an der Provokation Stärkerer", schreibt Schoepp in seinem "Geschichten aus Südeuropa und Lateinamerika" gewidmeten Blog.

Stunde der Populisten

Aus einem genaueren Blick über den Atlantik könnten sich Rückschlüsse auf künftige Entwicklungen in Europa ziehen lassen (nach Griechenland klopfen auch in Spanien linksnationale Populisten an die Türen der Macht).

Denn so, wie Tsipras mit der Absicht angetreten ist, dem "Spardiktat" der Troika aus EU-Institutionen und Internationalem Währungsfonds die Stirn zu bieten, so lehnte sich Correa – bisher mit Erfolg – gegen jegliche "Einmischung" der USA und des IWF auf. Vor rund 20 Jahren befanden sich ja mehrere Staaten Lateinamerikas in einer ähnlich tristen Lage wie nun die Krisenregionen der EU. Nach einer Phase billig erhältlicher Kredite waren sie hochverschuldet, ihre Regierungen unterwarfen sich dem Spardiktat. Um die Staatsausgaben einzudämmen, wurden allenthalben die Mittel für Gesundheit, Bildung, Pensionen und andere soziale Bereiche zusammengestrichen, bis es zu massenhaften Protesten der Bevölkerung kam, die bald als "IWF-Aufstände" bekannt wurden.

Das war die Stunde der Populisten, die zweierlei versprachen: Wiederherstellung der nationalen Souveränität (ohne ausländische Finanzkontrolleure) und ein Ende der Austerität. Im lateinamerikanischen Kontext verstand sich dieser (linke) Populismus als eine Politik für die arme Bevölkerungsmehrheit und gegen die Herrschenden (in manchen Ländern eine kleine Gruppe von Unternehmerfamilien) und deren ausländische Verbündete. Charismatische Anführer betonten auch die ewige Opferrolle der Armen. Sie erinnerten an die Zeiten der Ausbeutung durch die Kolonialmächte, die es ja tatsächlich gegeben hatte (so wie sich die Griechen nun auch an das Wüten der Nazis im Zweiten Weltkrieg erinnern).

Die Wandlung der Linkspopulisten

In den Wirtschaftswissenschaften hatten diese Populisten einen denkbar schlechten Ruf. In seinem 1991 erschienen Standardwerk "The Macroeconomics of Populism in Latin America" beschrieb der deutsch-amerikanische Ökonom Rudi Dornbusch (1942–2002) das "immer wiederkehrende Szenario" knapp zusammengefasst so: Sobald sie an der Macht sind, versuchten populistische Regierungen, die Wirtschaft durch massive Ausgabensteigerungen wieder anzukurbeln. Nach einer kurzen Erholungsphase wachse die Inflation, die man durch Lohn- und Preiskontrollen einzudämmen versuche. Bald seien die Güter knapp, das Kapital auf der Flucht ins Ausland und der Staat in einer derartigen Krise, dass "das populistische Regime zusammenbricht".

Doch einige der – oft auch nach eigener Definition – populistischen Regierungen, die in Lateinamerika angetreten sind, haben zum Teil große und nicht nur kurzfristige Erfolge vorzuweisen. So lag die Inflation in Ecuador sieben Jahre nach dem Amtsantritt des "Bürgerpräsidenten" Correa 2014 bei 3,7 Prozent, während das Wirtschaftswachstum über mehrere Jahre hinweg stets bei vier Prozent lag, das Pro-Kopf-Einkommen kontinuierlich stieg, Arbeitslosigkeit und Armut deutlich zurückgingen.

Noch eindrucksvoller war das Ergebnis in Brasilien, wo der Hunger besiegt wurde, Millionen Menschen in die Mittelschicht und das Land unter die führenden Wirtschaftsmächte aufstieg. 2003 machten die Brasilianer den  Linkskandidaten José Inácio Lula da Silva zum Präsidenten, der von der Fachwelt zunächst auch als Populist geschmäht wurde. Weil er (und seine Nachfolgerin Dilma Rousseff) über viele Jahre hinweg stabile Verhältnisse sicherten, wurde ihnen der Titel "pragmatische Populisten" verliehen. (Tatsächlich folgt Brasilien, dessen Politik moderater als etwa die von Venezuela ist, annähernd dem Modell skandinavischer Sozialdemokraten früherer Jahrzehnte: Stärkung der Massenkaufkraft, Förderung von Industrieinvestitionen. Die Schornsteine müssen rauchen; Umweltschutz und die Anliegen von Minderheiten werden weniger berücksichtigt.)

Spitzenplatz für Bolivien

Voriges Jahr konzedierte die UNDP, das Entwicklungsprogram der UNO, den Staaten Lateinamerikas, von denen sich etliche in unterschiedlichem Ausmaß von den neoliberalen Dogmen (Privatisieren, schlanker Staat) verabschiedet haben, große Erfolge bei der Bekämpfung der Armut. In einem Jahrzehnt sei die Armut in Lateinamerika und der Karibik erheblich reduziert worden. Den Spitzenplatz nahm dabei Bolivien ein, das den Anteil der Armen um 32 Prozent senkte.

Evo Morales, der erste indigene Präsident Boliviens, gilt dabei als typischer Linkspopulist, der gern über die Imperialisten herzieht. Nur vorübergehende Erfolge gab es in Argentinien (wo Präsident Nestor Kirchner die Wirtschaft nach dem totalen Zusammenbruch um die Jahrtausendwende zunächst ankurbelte. Unter seiner Nachfolgerin und Witwe Christina Fernández de Kirchner ist Argentinien erheblich ins Trudeln gekommen.) Und in Venezuela, dessen 2013 verstorbener Caudillo Hugo Chávez der Inbegriff eines lateinamerikanischen Linkspopulisten war, kracht das ganze System. (Die Weltwirtschaftskrise ab 2010 haben die Lateinamerikaner zunächst recht gut überstanden, auch weil der vom wachsenden Bedarf Chinas aufrecht erhaltene Rohstoffboom anhielt. Doch die andauernde wirtschaftliche Flaute, vor allem auch in Europa, führte dazu, dass China nicht mehr so viele Produkte absetzen konnte und der Rohstoffhunger nachließ.)

Die erfolgreichen Jahre der lateinamerikanischen Populisten lösten auch bei Teilen der europäischen Linken einen Nachdenkprozess aus. Speziell die Griechen, die auch schon früher mit Lateinamerika in einem regen Austauschprozess standen, holten sich Anregungen. Im argentinischen Onlinemagazin "BAE Negocios" berichtete Julio Burdman dieser Tage von einem Treffen lateinamerikanischen Journalisten mit dem Syriza-Chef, bei dem sie Alexis Tsipras fragten, ob er durch die häufige Erwähnung von Lula, Chávez und den Kirchners "Merkel und die Troika schrecken" wolle. Tsipras habe das zurückgewiesen und versichert, dass ihm Südamerika tatsächlich viele Anregungen und Ideen geboten habe.

Die Vordenker von Syriza und Podemos

Urvater der modernen Populisten Lateinamerikas war der 1974 verstorbene Argentinier Juan Domingo Perón. Zu den damals jungen argentinischen Linken, die unter der Führung des Generals ein progressives Projekt verwirklichen wollten, zählte der Politologe Ernesto Laclau. Auf Einladung des marxistischen Historikers Eric Hobsbawm kam er 1969 nach Großbritannien, wo die unweit von London gelegene Universität von Essex seine akademische Heimat wurde.

Laclaus Interesse galt vor allem dem italienischen Politiker und Philosophen Antonio Gramsci (1891–1937), der als Vorläufer des Eurokommunismus ein vom Machtdenken der Sowjetunion weit entferntes Gedankengebäude entwickelte. Zentral ist seine Vorstellung von der "Hegemonie", der weltanschaulichen Vorherrschaft einer dominanten sozialen Gruppe. Einschneidende politische Veränderungen könnten nur erreicht werden, wenn die intellektuelle Lufthoheit nicht nur über Uni-Hörsäle und Parteilokale, sondern auch über die Stammtische (und, so könnte man heute hinzufügen, die Internetforen) erobert wird.

Laclaus linker Populismus

Vor genau 30 Jahren veröffentlichte Laclau zusammen mit seiner Frau, der belgischen Politologin Chantal Mouffe, das Werk "Hegemony and Socialist Strategy". Darin wird einem linken Populismus das Wort geredet. An die Stelle des Industrieproletariats, das als möglicher Motor revolutionärer Veränderungen ausgedient hat, solle "das Volk" treten. Die Linke solle sich nicht scheuen, die Menschen mit patriotischen Argumenten im Kampf gegen die traditionellen wirtschaftlichen Machthaber für ihre Seite zu gewinnen.

Laclaus Studienprogramm für Diskursanalyse (die sich natürlich auch mit post-strukturalistischen Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida auseinandersetzte,) wurde zu einem internationalen Zentrum für intellektuell anspruchsvolle Linke. Die Syriza-Politikerin Rena Dourou, Präfektin der Region Attika, zu der auch die griechische Hauptstadt Athen gehört, studierte in Essex. Auch Finanzminister Yiannis Varoufakis nennt die University of Essex seine Alma Mater, an der er studierte (Mathematik, Ökonomie) und lehrte.

Obamas "Yes we can" von Latinos entlehnt

Ernesto Laclau erlebte den Höhenflug seiner Ideen nicht mehr. Er ist im April 2014 mit 79 Jahren gestorben. Die Uni Essex pflegte das Interesse am neuen Populismus aber weiter. Erst dieser Tage wurde dort ein Seminar abgehalten, bei dem Erfahrungen aus Lateinamerika (Ecuador, Uruguay) mit jenen von Syriza und der spanischen Partei Podemos verglichen wurden.

Podemos-Generalsekretär Pablo Iglesias (36) ist selbst Politikwissenschaftler. Die neue spanische Linkspartei, die erst im Mai 2014 gegründet wurde, steht nun in manchen Umfragen an der Spitze aller spanischen Parteien, von denen die meisten durch Wirtschaftskrise und Korruption diskreditiert worden sind. Der Name Podemos ("Wir können es") sei von Latino-Aktivisten in den USA entlehnt worden, sagte Iglesias im Nachrichtenprogramm "Democracy now". Präsident Barack Obama habe seinen berühmten Wahlkampfslogan "Yes we can" ebenfalls von den Latinos bezogen.

"Passionen" entfachen

Kürzlich traf Iglesias mit der Politologin Chantal Mouffe zu einem ausführlichen Gespräch zusammen (das man, in spanischer Sprache, hier nachhören kann). Beide sind sich in der Ablehnung des weltbeherrschenden Finanzkapitalismus einig, Mouffe beklagt zudem, dass die europäische Sozialdemokratie vor dem Neoliberalismus "kapituliert" habe. (Man könnte dabei etwa an den niederländischen Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem denken.)

Um erfolgreich zu sein, müsse die kritische Linke ihre staubtrockene Argumentationsweise ablegen, meint Mouffe. Sie verweist auf den Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen wie des französischen Front National von Marine Le Pen, die in der Politik auch "Passionen" entfachten. (Anders als die Rechtspopulisten wollen die Linken allerdings die EU von innen heraus verändern.)

Blutiger Sturz in Chile

Die neue, durch eine Politik der Gefühle aufgeheizte Frontstellung zwischen dem unterdrückten Volk und der kleinen "Kaste" (ein Podemos-Lieblingswort) der Herrschenden birgt allerdings enorme Risiken. Nicht umsonst wird in diesen Tagen immer wieder daran erinnert, wie in Chile 1973 der Linkspräsident Salvador Allende, der "das Volk" ("El Pueblo") an seiner Seite glaubte, vom Militär und den verbündeten (Medien-)Unternehmern blutig gestürzt worden ist.

Diese Woche fragte ich deshalb den früheren griechischen Außenminister Dimitris Droutsas, welche Chancen er für einen Erfolg der Syriza-Populisten innerhalb Griechenlands sehe. Droutsas ist ein Gefolgsmann des griechischen Sozialdemokraten Giorgos Papandreou, dessen Pasok-Partei bei der Wahl 2009 noch auf 43,94 Prozent kam. Bei der jüngsten griechischen Wahl traten Papandreou und Droutsas für die neue Pasok-Abspaltung Kidiso an, erreichten aber mit bloß 2,44 Prozent der Stimmen kein Mandat. Droutsas sagte in Wien bei einer Veranstaltung des NZZ-Clubs, dass die Pasok-Regierung – die die Welt erst auf die griechische Finanzkatastrophe aufmerksam machte – mit ihrem beabsichtigten einschneidenden Reformprogramm gescheitert sei, weil sie im Dreieck der griechischen Machtverhältnisse nur eine Ecke beherrschte. Das zweite Machtzentrum werde von einer Gruppe großer Unternehmerfamilien dominiert, die auch das dritte lenke: die wichtigsten Medien des Landes. Derzeit komme die Syriza-Regierung auf ihrem Popularitätshöhenflug auch in den griechischen Medien gut weg. Sie habe allerdings noch nicht mit dem Versuch begonnen, die Unternehmermacht zurückzuschneiden.

Was dann geschehen kann, war bereits in einigen lateinamerikanischen Ländern mit linkspopulistischen Regierungen zu beobachten. Anstelle anderer Parteien (die zerbröselt sind) schwangen sich neoliberal orientierte Medienunternehmen als Träger der politischen Opposition auf, zum Beispiel in Argentinien, wo die Clarín-Gruppe versucht, die Peronisten aus dem Amt zu jagen.

Es gibt nur eine Demokratie

Mein Fazit: Der Charme des Linkspopulismus liegt darin, dass er derzeit bei den Wählerinnen und Wählern vieler Länder Erfolg hat, in denen bisher nur die Wahl zwischen Politikern bestand, die allesamt dieselbe Ideologie (des Sparens und der Herrschaft der Märkte) vertraten. Es scheint mir nicht klug zu sein, die Protagonisten dieser neuen Parteien als ungebildete und freche "Halbstarke" abzutun, ohne sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Es gibt aber auch gute Gründe, skeptisch zu bleiben und nicht mit Feuer und Flamme ins Lager der Linkspopulisten überzulaufen: Deren manichäisches Freund-Feind-Denken ist demokratiepolitisch hochriskant.

Als Zeugen möchte ich dazu Sergio Ramírez aufrufen, den nicaraguanischen Schriftsteller, der dort nach dem Sturz der Diktatur Mitglied der sandinistischen Revolutionsjunta und dann Vizepräsident Nicaraguas war. Ramírez, Träger des Bruno-Kreisky-Preises für Menschenrechte, hat längst mit den dogmatisch gewordenen Sandinisten gebrochen; für autoritäre Entwicklungen hat er scharfe Kritik übrig.

Nur eine Demokratie

Kürzlich schrieb er in einem Beitrag für die Online-Publikation prodavinci.com über eine Begegnung, die er vor Jahren in der venezolanischen Hafenstadt Maracaibo mit Anhängern der gerade siegreichen "bolivarischen Revolution" hatte. Junge Menschen in roten Hemden, Parteigänger von Hugo Chávez, hätten dort mit vor Begeisterung glühenden Gesichtern an einem politischen Seminar teilgenommen, davon überzeugt, dass ein neues, besseres Zeitalter anbreche. Er habe damals an seine eigene politische Geschichte und an die Enttäuschungen gedacht, als die romantischen Revolutionsträume im Bürokratismus der Machtausübung untergingen. Wer dann am wahren Glauben zweifle, gelte rasch als Dissident oder gar als Verräter.

Wie Brasiliens Lula ruft auch Ramírez den Linken zu, nie zu vergessen, dass nicht die Wahl zwischen einer bürgerlichen und einer proletarischen Demokratie bestehe, sondern dass es nur eine Demokratie gibt, mit Bürger- und Menschenrechten für alle. (Erhard Stackl, derStandard.at, 19.2.2015)