Die dominante Persönlichkeit in der europäischen Politik der vergangenen Wochen war ohne Zweifel Angela Merkel. Sie war und ist die mächtigste Frau Europas. Ihr Marathoneinsatz in der Ukraine- und der Griechenlandkrise, ihre Integrität und ihre Zähigkeit haben ihr Lob und Bewunderung von allen Seiten eingebracht. Aber in Deutschland haftet ihr nach wie vor die Charakterisierung an: Sie ist eine Politikerin ohne Charisma.

Kann es sein, dass die Zeit der charismatischen Führer und Führerinnen vorbei ist? Wir leben in einer Epoche der Politikverdrossenheit. In einer von Unsicherheit, Korruption und Unübersichtlichkeit beherrschten Welt misstrauen die Leute den großen Worten und ausladenden Visionen der Politiker. Zu oft sind sie von diesen enttäuscht worden. Meinungsforscher wollen ermittelt haben, dass die Menschen sich heute nach verlässlichen, anständigen und unspektakulären Akteuren in der Politik sehnen, die so etwas wie Halt und Orientierung bieten.

Politiker dieses Typs kennen wir vor allem aus Skandinavien, wo sie sich im Großen und Ganzen bewährt haben. Glitzernde Figuren à la Berlusconi waren eher weiter südlich zu Hause, sie haben sich aber öfter als Blender erwiesen. Möglicherweise ist das der Grund, warum eine Mehrheit der Deutschen jahrein, jahraus einer Frau ihre Stimme gibt, die nicht als strahlende Menschheitsretterin auftritt, sondern nüchtern und solide ihre Arbeit macht.

Die Pastorentochter und gelernte Naturwissenschafterin ist bekannt für ihren Pragmatismus. Sie gehört der CDU an, bekennt sich zu christlichen Werten, hat aber nichts übrig für ideologische Eiferer. Sie arbeitet gut mit ihrem sozialdemokratischen Außenminister zusammen, macht Kompromisse, wo es sein muss, und hat Reformen mitgetragen, die dem rechten Flügel ihrer Partei überhaupt nicht geschmeckt haben, vom Mindestlohn bis zur Zuwanderung. Hektische Imagepflege und populistische Anwandlungen sind ihr fremd. Ihre Reden beginnt sie oft mit dem Satz: "Sie kennen mich." Vielen Stimmbürgern scheint das zu genügen.

Ihr Outfit ist mittlerweile eine weltbekannte Marke. Die Merkel-Uniform. Dunkle Hose, Sakko, Letzteres in verschiedenen Farben. Die Frage, was anziehen, hat sich für Angela Merkel längst erübrigt. Ein Griff in den Schrank, fertig. Bereit fürs Tagewerk. Eine No-Nonsense-Frau offenbar auch im Privatleben, nicht ohne eine Prise norddeutsch-trockenen Humors und sogar mit einem gewissen herben Charme.

In Österreich, wo demnächst Bundespräsidentenwahlen anstehen, ist in letzter Zeit oft der Name Irmgard Griss genannt worden. Die Juristin, die den Hypo-Untersuchungsausschuss erfolgreich geleitet hat, ist ein Merkel-Typ, sachlich, kompetent und moralisch okay. Freilich, sie ist keine Politikerin, und das Amt des Bundespräsidenten ist nun einmal ein eminent politisches Geschäft. Aber dass Persönlichkeiten wie sie so gut ankommen, sagt viel aus über den Zustand unserer Gesellschaft.

Charisma ist die Fähigkeit, Menschen zu bezaubern, zu faszinieren, auch zu verführen. Lange Zeit galt es als ausgemacht, dass ein Spitzenpolitiker ohne Charisma keine Chance hat. Leidenschaft und mitreißende Rhetorik waren Grundvoraussetzungen. Angela Merkel hat das Gegenteil bewiesen. Die erfolgreichste Politikerin des Kontinents hat es auf andere Weise geschafft. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 19.2.2015)