Der 21. Februar wurde zum Internationalen Tag der Muttersprache ausgerufen. Sprache wird oft als grundlegender Bestandteil der Identität definiert. Doch was bedeutet eigentlich eine Sprachidentität im 21. Jahrhundert?
Katharina Brizić: "Gegen die Konjunktur von Kultur und Identität und gegen die Biologisierung des Sozialen gilt es, auf die realen Ursachen politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Konflikte zu verweisen." Ich zitiere hier den Historiker und Islamwissenschafter Hannes Bode, weil ich dieses Zitat ausnehmend wichtig und treffend finde. So etwas wie Identität in seiner Bedeutung festschreiben und definieren zu wollen ist erstens kaum möglich und zweitens selten sinnvoll, manchmal sogar gefährlich.
Kaum möglich ist eine allgemeine Definition, weil wir Menschen Identität stets neu "erschaffen": Wir erleben uns selbst als so viele Identitäten, soziale, sprachliche, geschichtliche, politische, wir gehen durch eine solche Bandbreite an Zugehörigkeiten und Solidaritäten im Lauf des Lebens, dass eine Definition schon an der schieren Fülle scheitert. Dies gilt auch für Sprache, und dabei für Menschen mit vielen Sprachen ebenso wie für jene mit "nur einer einzigen": Man kann diese Sprache mal als eigen und vertraut erleben, zum Beispiel im Kreis vertrauter Menschen, mal kann sie einem fremd sein, etwa in Situationen der Unterlegenheit, der Unkenntnis einer spezialisierten Fachsprache. Man kann Sprache ablegen wollen, weil mit ihr Verfolgung und Trauma verbunden waren, oder aber sich nach ihr zurücksehnen. Man kann sie lernen, verlernen und neu lernen, und vielleicht ist diese Unbegrenztheit die einzige Konstante, nicht erst im 21. Jahrhundert.
Es werden aber gerade wegen dieser Identitäten wie Ethnie oder Sprache politische Auseinandersetzungen, sogar Kriege geführt ...
Brizić: Ja, und genau hier wird das Definieren von Identität gefährlich. Wenn es "essenzialisiert": Oft wird von all den genannten Identitäten eine einzige herausgegriffen – eine sprachliche, eine religiöse, eine nationale – und unterstellt, dass diese eine Identität die entscheidende sei. Völlig ausgeblendet wird jede Entwicklung zu einem denkenden und veränderlichen Menschen, der seine Zugehörigkeiten auch (selbst)kritisch sieht und vielleicht ganz überraschende Solidaritäten und Verantwortlichkeiten entwickelt. Reduziert man aber erst den einzelnen Menschen, dann auch ganze Gesellschaften und ihre Konflikte. Fragen des Bildungswesens, Fragen sozialer Gerechtigkeit werden solcherart zu "ethnischen" oder "religiösen" Fragen, ohne dass dies einer Lösung irgendwie zuträglich wäre.
Sprache und Nation sind zwei Begriffe, die uns mindestens seit dem 19. Jahrhundert begleiten. Auf dem Balkan versucht man immer noch, Sprachen fürs Nationbuilding massiv zu nutzen. Wie nationalistisch darf Sprache sein?
Brizić: Wenn Sie mich fragen, darf sie es gar nicht. Die Frage ist, warum sie es trotzdem tut. Gerade hat die neugewählte Präsidentin Kroatiens erklärt, man könne die (sprachlichen, religösen) Minderheiten nun eigentlich abschaffen. Interessant ist daran, dass sie zwar "die anderen" abschaffen will, nicht aber "sich selbst" – die kroatische Mehrheitsgesellschaft soll ja offenbar "erschaffen" bleiben. Nun hätte Kroatien historisch betrachtet allen erdenklichen Grund, seine Minderheiten auf Händen zu tragen; ich erwähne nur die Vernichtung der Roma und der jüdischen Bevölkerung zur Zeit des faschistischen Kroatien; und auch die jüngere Vergangenheit ist kaum aufgearbeitet. Ich betrachte es schon allein deshalb als Schande, was für ein Diskurs hier läuft. Eine uneingeschränkt respektvolle, wertschätzende Haltung gegenüber allen Teilen der Gesellschaft wäre das Mindeste. Und die Frage von Minderheitenrechten kann nicht dem Gutdünken der an der Macht befindlichen Mehrheit überlassen sein.
In Österreich haben mittlerweile fast 20 Prozent der Bevölkerung einen sogenannten Migrationshintergrund. Die Politik beschäftigt sich meistens nur mit Forderungen, Deutsch zu lernen. Als wäre man damit alle Probleme der Migranten los ...
Brizić: Das ist ein alter Traum, und wahrer wird er trotzdem nicht. Hier hilft ein Blick auf die USA: Dort sprechen viele Immigrantengruppen seit jeher die Mehrheits- und Bildungssprache, also Englisch. Trotzdem ist die Bildungsungleichheit und gesellschaftliche Segregation Realität geblieben. Um stark divergierende Unterschiede im Bildungserfolg auszugleichen, braucht es gleichzeitige Maßnahmen auf allen Ebenen, zum Beispiel auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und so weiter. Das Sprachenlernen ist nur einer von vielen Aspekten.
Dazu ist das beständige Kommen und Gehen in einer globalisierten Welt nun einmal normal, wenn auch oft mit hohen persönlichen Opfern verbunden. Es wird also immer jemanden geben, der diese oder jene Sprache neu lernen muss. Österreich ist Teil dieser Entwicklung, es ist im internationalen Vergleich sicher und wohlhabend und aus diesem und zahlreichen anderen Gründen ein Ort der Sehnsucht für viele. Und an unserem Umgang mit vulnerablen Bevölkerungsgruppen wird sich letztlich unser Humanismus messen.
Meinungen der Sprachwissenschaft zum Trotz hält sich der Mythos der "Halbsprachigkeit" bei zweisprachigen Migranten in der öffentlichen Wahrnehmung immer noch hartnäckig.
Brizić: Auch das hat mit essenzialisierenden Vorstellungen zu tun: Was ist "ganz" und was daher nur "halb"? Oft gilt Schriftlichkeit als Hochkultur, Mündlichkeit als minder, zumal das Mischen mehrerer Sprachen. Dazu kommt die Vorstellung, man müsse die eine Sprache bleiben lassen, um die andere zu lernen. Menschen mit vielen Sprachen und vielen "Solidaritäten" gelten vielleicht auch deshalb im nationalstaatlichen Denken gerne als unsolidarisch, als nur halbherzige Mitglieder der Gesellschaft; ich verweise dazu auf einen Artikel von Isolde Charim, die dieses vermeintliche Nicht-ganz-Sein sehr anschaulich diskutiert.
Der Blick auf die Entstehung menschlicher Sprachen zeigt uns außerdem, dass es eine "Vollständigkeit" oder gar "Reinheit" von Zugehörigkeit und Sprache niemals gab. Sehr wohl aber gab und gibt es unbegrenzte (insbesondere kindliche) Sprachlernfähigkeit und menschliche Kreativität.
Wie stellen Sie sich eine optimale mehrsprachige Klasse in der Volksschule vor?
Brizić: Vor allem mit einer immensen, vorbehaltlosen Unterstützung der Lehrkräfte. Von ihnen wird ja verlangt, dass sie die hier beschriebene soziale und sprachliche Vielfalt "ordnend" gestalten, also: die SchülerInnen individuell fördern, die vielen verschiedenen Vorerfahrungen sinnvoll ergänzen, ein Gespür dafür entwickeln, was für Bedürfnisse sich abzeichnen, und so weiter. Dafür benötigen sie vor allem Zeit, personelle Unterstützung, Diversität als personelle und methodische Selbstverständlichkeit und ein tiefes gesamtgesellschaftliches Interesse für das Funktionieren des Bildungswesens. (Nedad Memić, daStandard.at, 20.2.2015)