Wien - Als Alfred Polgar Anfang März 1938 von Wien in die Schweiz reiste, hatte er mit seiner 70 Seiten umfassenden Marlene-Dietrich-Monografie das längste Manuskript bei sich, das der gern als "Virtuose der kleinen Form" bezeichnete Autor je zu Papier gebracht hatte.
Die Abfassung des Textes über die Diva war für den im Jahr 1873 "unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit" in der Donaustadt als Sohn jüdischer Einwanderer geborenen Schriftsteller, Theaterkritiker und Feuilletonisten eine "bittre, schwere Arbeit" gewesen. Am 22. Jänner hatte er dem Schweizer Freund Carl Seelig in einem Brief berichtet: "Das D-Buch lastet auf mir wie eine schwere Krankheit. Ich bin etwa in der Hälfte. Und muss es fertig machen (...)."
Polgar machte es fertig, doch wenige Wochen später, als am 11. März mit dem Einmarsch deutscher Truppen Österreich "vom Teufel geholt wurde" und Polgars Frau Lisl Wien mit dem letzten Zug verlassen konnte, war an eine Publikation in Österreich - wie in Deutschland - nicht mehr zu denken. Viele Texte Polgars gingen auf den weiteren Stationen seiner Flucht verloren, die ihn über Zürich, wo der Schweizer Schriftstellerverband eine Erwerbsbewilligung verhinderte, und Paris, das er einen Tag vor der Besetzung durch deutsche Truppen verließ, bis in die USA, deren Staatsbürger er wurde, führte.
Welt und Theater
Nicht so Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin. Vor Jahren hat der Wiener Autor und Feuilleton-Redakteur Ulrich Weinzierl, der mit Marcel Reich-Ranicki die sechsbändige Polgar-Werkausgabe herausgegeben und mit der Biografie Alfred Polgar ein Standardwerk geschrieben hat, das Manuskript in der New Yorker Wohnung von Polgars Stiefsohn Erik G. Ell gefunden. Nun macht Weinzierl den Text 77 Jahre nach seinem Entstehen in einer aufwändigen, mit ausführlichem Nachwort, Textvarianten und Erläuterungen versehenen Edition im Zsolnay-Verlag erstmals für das Publikum greifbar.
Es handelt sich bei dem schlanken Text nicht um eine Biografie im eigentlichen Sinne, sondern um eine Annäherung an die Person oder eben das Bild einer "berühmten Zeitgenossin", die damals noch nicht gänzlich, Marlene Dietrich war 36 Jahre alt, von der medialen Selbstinszenierung überdeckt war.
Alles beginnt im Jahr 1927 auf jenen Brettern, die für Polgar die Welt - wenn auch oft eine falsche - bedeuteten. Die Wiener Kammerspiele zeigten einen amerikanischen Reißer, in dem Marlene Dietrich eines von fünf Broadway-Girls gab, das einem Mordbuben den Garaus macht. Und zwar relativ emotionslos. Mehr noch als die Anmut der Schauspielerin hatte es Polgar, und nicht nur ihm, Frau Dietrichs "Passivität im Augenblick, diese seltsame Ruhe im Affekt" angetan. Gut möglich, dass Polgar in der zurückgenommenen Mimik und Stimme der Berliner Schauspielerin, ihrer Technik der "verhaltenen Empfindung" und scheinbar "absichtslosen Wirkung" Anklänge an die eigene Maxime, "aus hundert Zeilen zehn zu machen", sah. Zudem, auch das eine Parallele, hatte das leidenschaftliche Interesse beider - Polgars Vater war Klavierschulinhaber gewesen - in jungen Jahren primär der Musik gegolten.
Zuwendungen
Nach dieser persönlichen Heranführung an die Porträtierte und einigen Seiten über Herkunft und ihren von Pflicht und Disziplin gezeichneten Werdegang folgen längere Analysen über einige Filme, u. a. Dietrichs letzten Stummfilm Die Frau, nach der man sich sehnt (1929) und die unter der Regie Josef von Sternbergs entstandenen Werke Der blaue Engel (1930), Marokko (1930), Dishonored (1931) und Shanghai-Express (1932). Im abschließenden interessantesten und organischsten Teil seines Marlene-Buches lenkt Polgar den Blick dann ins Private. Als Basis dafür diente ihm ein längeres Gespräch, das er mit der Diva 1937 in St. Gilgen führen konnte, wo sie auf Sommerfrische weilte.
Persönlich kennengelernt hatte er sie während seiner Berliner Zeit Mitte der 1920er-Jahre, als der im ganzen deutschen Sprachraum bekannte Theaterkritiker und Autor in Deutschland lebte. Das Verhältnis beruhte auf gegenseitigem Respekt und Interesse an der Tätigkeit des anderen, doch es blieb bei einer eher losen Bekanntschaft. Als Polgar 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zurück nach Wien gehen musste, verlor er nicht nur auf einen Schlag seinen deutschen Verlag (Rowohlt) und wichtige Einnahmequellen, sondern es drohten schon einige Monate später mit der Installierung des austrofaschistischen Ständestaates neues Unheil und weitere finanzielle Engpässe.
Polgar verzweifelte. Die von Carl Seelig ohne Wissen Polgars um Hilfe gebetene, mittlerweile in Hollywood lebende Marlene Dietrich überwies postwendend 500 Dollar (heute zirka 12.000 Euro). In den folgenden Jahren folgten weitere gewichtige Zuwendungen. Früh schon hatte Polgar Marlene Dietrich angeboten, als Gegenleistung ein Filmskript für sie zu schreiben. Es wurde dann schließlich jener unter widrigen Umständen mit zartem Blick geschriebene Text über eine Frau, die trotz vieler problematischer Seiten im Krieg Haltung beweisen sollte. Wie Polgar, der 1949 nach Europa zurückkehrte, wo er 1955 in Zürich starb.
Chronist kleiner Untergänge
"Ich nehme meine Arbeit ernst (...), aber ich nehme sie nicht wichtig; zumindest nicht für die anderen", schreibt Polgar in den Kleinen Schriften. Und wie der 19 Jahre jüngere Joseph Roth, der sich mit den Worten "Ich bin ein Schüler von Alfred Polgar" vorzustellen pflegte, verstand er seine Miniaturgeschichten und Alltagsskizzen als Chroniken der kleinen Untergänge. Wichtig waren Polgar dabei, wie er im Jahr 1901 schrieb, ein "mikroskopisches Auge", das Zusammenhänge aufspürt - und "ein Ohr, welches Schicksale hört, die auf leisen Sohlen gehen".
Drei Jahrzehnte später schreibt er in Marlene über das Gesicht der deutschen Schauspielerin, die 1992 als amerikanische Staatsbürgerin in Paris sterben wird: "Verlorenheit, Verlorenheit in der Welt, in der Liebe, im labyrinthischen Schicksals-Plan. Es ist das Gesicht eines Menschen, über den verhängt wurde, das Leben immer ein wenig als Exil zu fühlen. Mag sein, gelegentlich als äußerst vergnügtes Exil. Aber die Heimat ist anderswo." (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 20.2.2015)