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Touristen auf der Akropolis: Früher trafen sich hier Philosophen wie Aristoteles: Was würde er zur griechischen Schuldenkrise heute sagen?

Foto: AP/Petros Giannakouris

"Wieso nur müssen sich meine Griechen dermaßen mit den Schulden plagen, weißt du es, Engelchen?" Aristoteles lehnte sich in seiner Wolke zurecht, um besser nach unten zu sehen, aufs Erdenrund.

Vom Engel kam keine Antwort, er ließ nur ein desinteressiertes Seufzen hören und fuhr fort, sein Haar zu kämmen.

"Und warum nur werden meine Griechen nicht verstanden? Ganz Europa hat doch eine Unmenge an Schulden und ganz Europa zählt doch traurig viele Arbeitslose, verarmte Familien, Jugendliche, die nicht weiterwissen. Bis hier herauf höre ich ihre Wut. Engelchen, ich sag's dir, bald kann es da unten zu schlimmen Dramen kommen, die Radikalen bereiten schon die Bühne. Dabei wäre die Lösung doch einfach, fuhr Aristoteles fort mit seinem einseitigen Dialog. Und niemand müsste verzichten, keiner würde um sein liebes Geld gebracht. Bequem, ganz bequem ließe sich die Schuld begleichen - durch die Überweisung von ein paar erfundenen Nullen. Sag, Engelchen, hat die Europäische Zentralbank Ähnliches nicht eben getan? Sie hilft dieser Tage doch den Banken, indem sie Anleihen kauft. Wie hoch ist der Betrag?"

"1,1 Billionen Euro etwa", antwortete der Engel gelangweilt.

Himmlische Zustände

"Na also!" Aristoteles' Stimmung hob sich. "Ein Hauch von eins Komma eins mit zwölf Nullen dran, welch luftiges Sümmchen! Und warum sich damit begnügen, wenn's so einfach ist? Bloß eine Null drangehängt, und die Zentralbank könnte nicht nur meine armen Griechen selig machen mit erfundenem Geld, sondern alle, ja alle Eurostaaten von ihrer Schuldenlast befreien. Auf einen Schlag. Bloß eines Knopfdruckes bedürfte es! Wie das funktionieren soll, fragst du mich?" (Das Engelchen hatte überhaupt nichts gefragt, keinen Mucks hatte es gemacht, stattdessen begonnen, seine Nägel zu feilen.) "Nun, lediglich Nullen gilt es zu fabrizieren, mein Engelchen, und sie von hier nach da zu transferieren, von der Zentralbank zu den Gläubigern im Namen der Schuldner, und hurra, niemanden mangelte es mehr an irgendwas. Engelchen, stell dir nur vor: keine Schulden mehr, keine Zinslast und Sorgen. Welch himmlische Zustände!" Selig breitete Aristoteles die Arme aus.

Der Engel aber zischelte ts-ts-ts, schüttelte das blondgelockte Köpfchen und rezitierte aus dem Gedächtnis: "Gemäß Art. 123 AEUV darf die Europäische Zentralbank keine Staatsschulden übernehmen."

Aristoteles rieb sich den Bart, rieb sich das Kinn, fing sich schließlich und sagte: "Wenn auf der Erde Liebe herrschte, wäre entbehrlich jedes Gesetz. Ach Engelchen (Aristoteles sah bittend in dessen Richtung), es wäre ein so schönes und nützliches Werk: Anstatt für bloße Zinsen zu schuften, bliebe Geld für die Jugend, für die Armen und Alten, für Bildung, Soziales und Kultur. Beseelt sein hieße wieder lebendig sein! Aufatmen könnten die Menschen überall!"

Nichts als Nullen

"Aristoteles!" Der Engel legte seine Nagelfeile beiseite. "Du kannst nicht einfach Nullen schaffen und damit die Menschen retten! Sofort verschuldeten sie sich wieder, nichts lernen würden sie aus der Zinsen Pein."

"Hab doch ein Herz, mein Engelchen. Genug der Katharsis. Ziel des Lebens ist das gute Leben, ist das Glück. Und glaub mir, es ist möglich. Nichts als Nullen braucht es, wie gesagt."

"Inflation", schimpfte da der Engel und war vor Unbehagen gar nicht mehr hübsch anzusehen im sonst so sorglos pausbäckigen Gesicht. "Du schaffst Inflation!"

"Ach wo, nur ein wenig", brummte Aristoteles.

"Und noch schlimmer", rief der Engel, "du spielst Gott! Machst die Menschen einander wenn nicht gleich so gleicher! Die Armen nicht mehr gar so arm, die Reichen nicht mehr gar so reich. Die Schuldner nicht mehr dienstbar, die Verleiher nicht mehr mächtig. Geld verlöre seinen hohen Wert, Gläubiger ihren Glauben!"

"Aber sie bekämen doch ihr Geld von der Zentralbank, mit allem Zins und allen schönen Nullen dran."

"Aristoteles, du willst den springenden Punkt nicht sehen. Einst veränderte der Glaube an Gott alles, nicht wahr, nun aber verändert der Glaube an Geld alles: den Verstand der Menschen und ihre Moral, ihre Gesetze und ihre Gesellschaft, ihr Wohl und Weh, ja ihre gesamte Welt. Heute ist Geld der Menschen Gott. Ihn beten sie an, für ihn sind sie bereit zu leben, zu schuften und zu leiden. Erinnere dich, die Menschen verloren ihren Glauben an den alten Gott, als er ihnen allen zu gehören begann und nicht mehr bloß den hohen Herren der Kirche. Klug ist es daher, dass Gott heute nur den purpurbehängten Priestern und den frommsten Pilgern gehört in jenen Kathedralen (der Engel deutete vage nach unten, auf die Türme von Citygroup, JP Morgan Chase, HSBC, UBS). Die Masse hingegen muss des Geldsegens dringend bedürftig bleiben, nur so hat sie Freude daran, Gottes Diener zu sein. Deshalb Aristoteles: Töte Gott nicht, indem du allen davon gibst."

Aristoteles dachte nach. Lange besah er den Engel. Schließlich schmunzelt er. Engelchen, sagte er, wie lange faulenzt du eigentlich schon hier in dieser hohen Wolke, dass du so phlegmatisch geworden bist in deinem Glauben?

Röte schoss dem Engel ins Gesicht. "Willst du mir", japste er, "ausgerechnet mir erklären, was Glauben bedeutet?"

"Gewiss, denn die Kunst der Philosophie ist nun einmal, neuen Glauben zu erwecken."

"Ach was", rief der Engel und bebte so sehr, dass der Wolke unter ihm Donner und Blitz entfuhren. "Aus dem Nichts willst du Großes schaffen, schrie der Engel in den himmlischen Lärm, aus Nullen Wohlstand und Freude! Das ist grotesk und unmöglich!"

"Mag ja sein, Engelchen", brummte Aristoteles versöhnlich, doch der Engel hörte ihn nicht mehr, löste sich eben auf in seinem Zorn. Und so sprach Aristoteles nur noch einem leis vergehenden Heiligenschein hinterher: "Aber bedenke doch, Engelchen, Aufgabe des Dichters ist nicht, Wirkliches zu erzählen, sondern das, was möglich ist, dringend möglich nach Notwendigkeit." (Thomas Sautner, Album, DER STANDARD, 21./22.2.2015)