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Nur vordergründig eine heile Welt: Die Solowezki-Inseln beherbergen nicht nur ein Kloster, sondern waren von 1920 bis 1937 auch ein stalinistisches Zwangsarbeitslager.

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Am Ort des Schreckens: Igor Nikolaewitsch Bryantsew besucht den Gulag, in dem sein Großvater jahrelang inhaftiert war.

Foto: Stefano Grazioli

Nikolai Jakowlewitsch Bryantsew (im Bild) war Häftling auf den Solowezki-Inseln.

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Als Igor Nikolaewitsch Bryantsew die Mauern des Klosters erblickt, schließt er kurz die Augen. Er ist gerade 70 Jahre alt geworden, und das ist sein Geschenk zum runden Geburtstag: eine Reise zum Solowezki-Archipel im Weißen Meer, hoch oben im Norden Russlands - es ist eine lange Reise in die dunkle Vergangenheit.

900 Menschen leben hier. Igor Nikolaewitsch ist zum ersten Mal da - aber nichts ist für ihn neu. Nicht die Kirche und die Türme, nicht der blaue Himmel, nicht die Möwen, die das Boot in den winzigen Hafen begleiten. All das kennt er längst von Nikolai Jakowlewitsch Bryantsew, seinem Großvater, den er nie kennengelernt hat. Durch die Briefe, die seine Großmutter immer wieder von der Insel bekommen hat, kennt er das Schicksal seines Vorfahren - ermordet 1937, nach fast vier Jahren im Solowezki-Lager.

Auf diesen Inseln, 150 Kilometer südlich des Polarkreises, entstand 1920 eines der ersten Sowjet-Arbeitslager; geschildert von Alexander Solschenizyn in Archipel Gulag. Nikolai Jakowlewitsch war 1937 eines der letzten Opfer in diesem Lager. Noch vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde es geschlossen und in eine Militärbasis umgewandelt.

Überraschender Kontrast

"Nur 64 Kilometer trennen die grünen Inseln vom kahlen Festland, und der Kontrast ist überraschend. Links vom Hafen steht das weiße Gebäude der Lager-Direktion, aber direkt vor dem unserem Dampfer erhebt sich die Zitadelle des alten Klosters." So beschrieb ein Lagerhäftling namens Kickas in seinen Memoiren mit dem Titel Sataniade die Ankunft auf Bolschoi Solowezki, mit 246 Quadratkilometern(Wien: 414 km², Anm.) die größte Insel des Archipels.

24 Stunden mit dem Zug von Moskau bis Kem, eine Kleinstadt in der Republik Karelien im Nordwesten Russlands; dann zwei Stunden mit dem Boot bis auf Bolschoi Solowezki, die von kleineren Inseln umgeben ist. Bis heute hat sich kaum etwas verändert. Nach einer langen Reise ist auch Igor Nikolaewitsch angekommen. Und eine andere Reise beginnt.

Von der Lager-Direktion sind nur das Fundament und einige Mauern geblieben. Das prächtige Kloster ist hingegen für die Pilger zum Teil noch geöffnet. Seit dem 13. Jahrhundert leben Mönche hier. Die Zaren machten es zu einer Festung, wo auch politische Gefangene inhaftiert wurden.

Nach der bolschewistischen Revolution 1917 wurde das Kloster geschlossen und 1923 in das "Solowezki-Lager zur besonderen Verwendung" integriert. In den folgenden 15 Jahren wurden hier tausende Menschen ermordet. Genaue Zahlen gibt es nicht.

Im kleinen Museum unweit des Klosters erfährt man, dass viele Menschen in den Wäldern auf der Insel, aber auch auf dem Festland, ihr Leben ließen; etwa von 1931 bis 1933 beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals. Laut Solschenizyn waren es mehr als 200.000 Tote.

Kein unbekannter Häftling

Dieses Gemetzel wurde Nikolai Jakowlewitsch erspart, denn er kam erst Ende 1933 in den Gulag. Sein Name ist Olga Botschakawowa, Historikerin im Lager-Museum, geläufig: Ja, Nikolai Jakowlewitsch Bryantsew war kein Unbekannter. 1889 in Warschau geboren, studierte er Ingenieurwesen am Polytechnischen Institut von Zar Nikolai II. und wurde nach der Revolution Leiter des Bergbauwesens der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Er fiel in Ungnade, wurde 1924 erstmals verhaftet und landete für kurze Zeit in der Butirskaja, im berüchtigten Moskauer Gefängnis.

1928 wurde er wegen angeblicher Spionage angeklagt. Dem renommierten Wissenschaftler gelang es aber, weiter arbeiten zu dürfen - wenn auch im sibirischen Exil. Nikolai Jakowlewitsch wurde am 17. März 1933 noch einmal verhaftet, wegen Teilnahme an terroristischen Machenschaften angeklagt und erhielt eine zehnjährige Haftstrafe.

Am 1. September 1933 schließlich kam er auf Bolschoi Solowezki an und leitete später das Chemielabor gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern wie Pawel Alexandrowitsch Florenski, bekannt als "russischer Leonardo da Vinci". Durch intensive Arbeit versuchte Nikolai, sein Leben in der Finsternis erträglich zu gestalten und ihm so einen Sinn zu geben. Am 9. Oktober 1937 wurde er zum Tode verurteilt und am 27. Oktober in einem Wald in Karelien, auf dem Festland, erschossen.

Das Haus, in dem einst das kleine Labor untergebracht war, ist 80 Jahre später immer noch da. Ein schmaler Weg führt durch den Wald, nur ein paar hundert Meter vom Kloster entfernt. Igor Nikolaewitsch hat einen Brief bei sich: Darauf ist ein Bild, das sein Opa im Winter 1934 gemalt und nach Moskau geschickt hat. Zu sehen ist dasselbe Gebäude, im Schnee versunken. "Das ist das Haus, wo ich lebe und arbeite. Die Landschaft und die Natur auf der Solowezki-Insel strahlen eine sonderbare Ruhe aus. Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen", schrieb er zur Beruhigung an seine Frau. Sie bekam erst in den 1950er-Jahren Gewissheit über seinen Tod.

Es ist schwer, sich vorzustellen, welche Qualen die Inhaftierten hier durchleben mussten - egal, ob Wissenschaftler, Intellektuelle, Priester, Anarchisten oder gewöhnliche Kriminelle. Das Gulag-System sei das Ergebnis aller Experimente im Solowezki-Lager, schreibt Solschenizyn in Archipel Gulag: Der Arbeitseinsatz von Häftlingen, die willkürliche Ausdehnung der Lagerhaft, die Kategorisierung politischer Gefangener als gewöhnliche Verbrecher, die ständige Demütigung der Gefangenen, die eklatante Missachtung der Menschenrechte.

Nikolai Jakowlewitsch gehörte immerhin zu den Privilegierten in diesem arktischen Inferno; er erfuhr meist nur indirekt, was sich anderswo auf den Inseln abspielte - zum Beispiel auf dem Sekira-Berg, wo eine Kirche in ein Gefängnis transformiert worden war. Hier wurden Mörder und sogenannte Klassenfeinde von den anderen isoliert und gefoltert. Schließlich wurden sie im abschüssigen Wald von einer langen, steilen Treppe in den Tod gestoßen - gefesselt an einen Baumstamm. Nur einige wenige Kreuze über den Massengräbern erinnern heute noch an das Massaker. Folterknechte und Opfer lebtenim selben Naturparadies, doch überleben konnte hier nur das Böse.

Späte Rehabilitierung

Auf Maly Sajazki, einer winzigen Insel südlich von Bolschoi Solowezki, wo die Landschaft damals wie heute unberührt ist, fand Nikolai Jakowlewitsch sein persönliches Refugium. Jahrelang sammelte er Algen in den eisigen Gewässern des Weißen Meeres.

Zusammen mit Pawel Alexandrowitsch Florenski forschte an der Produktion von Jod und Agar, einem Geliermittel, aus dem örtlichen Seetang. Eine Aufgabe, die nicht nur der Wissenschaft diente, sondern auch der eigenen Seele. Am 11. Mai 1937 schrieb der Philosoph, Theologe, Mathematiker und Naturwissenschaftler Florenski: "In einigen Tagen wird unser Epos über die Algen beendet sein. Ich weiß nicht, was ich später machen werde. In meinem Leben ist es immer so gewesen: Ich fing etwas an, und dann musste ich aufgeben - aus Gründen, die nicht von mir abhingen." Florenski wurde am 8. Dezember 1937 erschossen, sechs Wochen nach Nikolai Jakowlewitsch. Beide wurden erst 1958 komplett rehabilitiert.

Igor Nikolaewitsch kniet nieder bei den Ruinen einer kleinen Hütte auf Maly Sajazki. Seine Hand umschließt eine kleine Laminaria, die Alge, die seinem Großvater das Leben etwas leichter gemacht hat. Er schließt noch einmal die Augen. Seine Reise ist hier zu Ende. Doch zu Hause, in Moskau, da liegen noch die Briefe aus der Hölle. (Stefano Grazioli, DER STANDARD, 21.2.2015)