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Lange Zeit zwei Ikonen der "Nation of Islam": Malcolm X (links) und der Boxer Muhammad Ali im Jahr 1964 in New York.

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Es ist der 21. Februar 1965: Im Audubon, einem Ballsaal in Harlem, haben sich an die 300 Menschen versammelt, um Malcolm X reden zu hören, den charismatischen Prediger schwarzen Selbstbewusstseins. Als er die Bühne betritt, fangen zwei Männer in den hinteren Reihen einen Streit an, worauf zwei seiner Leibwächter nach hinten eilen. Damit lassen Charles Blackwell und Robert Smith ihren Schutzbefohlenen vorn am Pult allein - ein fataler Fehler, auf den die drei Auftragskiller nur gewartet haben.

Schnell zieht ein dunkelhäutiger, untersetzter Mann eine abgesägte Schrotflinte unter seinem Mantel hervor. Der erste Schuss trifft Malcolm X links in die Brust; es ist bereits der tödliche, noch bevor weitere Kugeln den Körper des 39-Jährigen durchlöchern. Die "Nation of Islam" hat Rache an einem Abtrünnigen genommen, an ihrem früheren Helden.

Lieber X als MLK

Was Malcolm X für Afroamerikaner bedeutet, begreift man, wenn man Robert Bullard an der Clark University in Atlanta besucht. Ein freundlicher Herr, grauer Kinnbart; eine Brille, deren große, runde Gläser seinem Gesicht eine heitere Note verleihen. Von der Wand blickt Malcolm X, streng und elegant, auf den Soziologieprofessor herunter. Vielleicht hat Bullard das Poster so auffällig platziert, um sich im Stillen über das Staunen überraschter Besucher amüsieren zu können. Müsste nicht Martin Luther King sein Idol sein, der Prediger gewaltlosen Widerstands? "Wissen Sie: Es ging um meine Würde. Malcolm X hat mir diese Würde wiedergegeben."

Wie differenziert viele den umstrittenen, komplizierten Mann wahrnehmen, hat Barack Obama in seiner Autobiografie Dreams from My Father geschildert. Manche seiner Theorien hätten ihm nie gefallen, was aber nichts ändere an dessen Verdiensten um schwarze Amerikaner. "Diese Bekräftigung, dass ich ein Mensch bin, dass ich etwas wert bin, ich denke, das war wichtig. Und ich glaube, Malcolm X hat das besser eingefangen als irgendwer sonst."

Allgegenwärtiges Konterfei des Brillenträgers

In Ferguson, Missouri, wo im Sommer 2014 tödliche Polizeischüsse auf Michael Brown eine Welle wochenlanger Proteste auslösten, war das Konterfei des Brillenträgers allgegenwärtig.

Wann immer etwas in einem schwarzen Viertel passiere, kreuzten im Nu zwanzig Streifenwagen auf, hatte einst Malcolm X die Realität skizziert. Diese Demonstration der Macht schüre nur Ressentiments unter Schwarzen: "Sie denken, sie leben in einem Polizeistaat, weshalb sie die Polizisten ihre Feindschaft spüren lassen".

Malcolm Little, der den Familiennamen seiner versklavten Vorfahren später ablegen wird, ist erst sechs, als sein Vater Earl in Lansing, Michigan, 1931 unter eine Straßenbahn gerät und verblutet. Mutter Louise ist überzeugt, dass es kein Unfall war, sondern die Tat weißer Rassisten.

Radikale Parolen, radikale Wende

Aus Malcolm Little wird irgendwann ein Krimineller; er stiehlt, handelt mit Drogen, lässt sich von Zuhältern verkuppeln. 1946 kommt er für sechs Jahre ins Gefängnis, wo er philosophische Werke zu lesen beginnt und zum Islam konvertiert. Wieder auf freiem Fuß, nunmehr strenger Asket, wird er zur rechten Hand Elijah Muhammads, des Anführers der "Nation of Islam", und macht aus der obskuren Sekte eine Massenorganisation. Als ihr der Boxer Cassius Clay beitritt, nunmehr Muhammad Ali, steht er ihm als spiritueller Mentor zur Seite.

Schwarze Amerikaner, glaubt Malcolm X, können ihre Würde nur wiedererlangen, wenn sie sich kompromisslos von einer Gesellschaft trennen, die beherrscht wird von den "weißen Teufeln". Martin Luther King wirft er Feigheit vor, und als 1963 John F. Kennedy erschossen wird, reagiert er mit Häme. Erst 1964, zurückgekehrt aus Mekka, lässt er tolerantere Ansichten erkennen, nähert sich der Bürgerrechtsbewegung an und bricht mit der "Nation of Islam". Es ist diese Wende, die das liberale Amerika bis heute mit unverkennbarer Faszination über ihn rätseln lässt. Was, wenn er länger gelebt hätte?

Zu den posthumen Sympathisanten gehörte später ein gewisser Bill Clinton. Der trug als Präsident beim Joggen gern eine Baseballkappe mit dem Buchstaben "X". (Frank Herrmann aus Washington, DER STANDARD, 21.2.2015)