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Erik Schinegger wird nicht müde, seine Geschichte zu erzählen.

Foto: APA/ORF/Hans Leitner

Agsdorf – Dort drüben sind die Karawanken, sagt Erik Schinegger, an klaren Tagen kann man sie sehen. Erik Schinegger steht auf dem Balkon seines Hauses und zeigt hinaus über das Kärntner Tal, vom Haus fällt der Hang steil hinunter, nur der Dunst stoppt den Blick. Vor sechzig Jahren, sagt Erik Schinegger, hat er auf diesem Hang gelernt, mit Skiern zu fahren, immer wieder ist er die verschneite Wiese hinaufgestapft, immer wieder hat er oben angeschnallt, um hinunterzubrettern. Damals, vor sechzig Jahren, wurde Erik Erika gerufen.

Am 19. Juni 1948 hatte eine Hebamme einer Mutter zu einem Mädchen gratuliert. Das Mädchen war und blieb kräftiger als die Nachbarstöchter, es hätte gerne mit Traktoren und Matchboxautos gespielt, musste aber mit Puppen spielen. Mädchen bekommen keine Matchboxautos geschenkt. Das Mädchen wurde eine ausgezeichnete Skiläuferin. Erika durchlief die üblichen Stationen, gewann Kinder- und Jugendrennen, stieg in den Landeskader auf, schaffte den Sprung ins Nationalteam. Sie wunderte sich, dass sie, im Gegensatz zu Freundinnen, weder Menstruation noch Brüste bekam. "Ich hatte Sehnsucht nach einem Busen." 1966 in Portillo, Chile, gewann das Mädchen den WM-Titel in der Abfahrt.

Auf- und durchgefallen

Ein Jahr später, im Vorfeld der Winterspiele 1968, führte das internationale olympische Komitee (IOC) verpflichtende Sextests ein, Erika fiel auf und gewissermaßen durch, das Mädchen war ein Bub. Ein Innsbrucker Urologe wies das XY-Chromosom und einen in der Bauchdecke versteckten Hoden nach, Erik war "intersexuell", ein Schicksal, das eines von 4000 Neugeborenen trifft. Der österreichische Skiverband (ÖSV) wollte die vermeintliche Erika zu einer Hormonbehandlung überreden, auf dass ihr und vor allem ihm, dem ÖSV, die Goldene nicht abhandenkäme. Erik hielt sich an den Rat des Urologen. "Er hat mir gesagt, ich müsste ein zweites Leben beginnen. Hätte ich das nicht getan, wäre ich seelisch draufgegangen."

Die operativen Eingriffe zogen sich ein halbes Jahr lang hin, Erik ließ sein Geschlecht, wie er sagt, "richtig stellen". Dann wechselte er ins österreichische Herrenteam, stark genug und vor allem schnell genug war er ja, in etlichen Zeitläufen hatte selbst ein Franz Klammer das Nachsehen. Große Erfolge blieben allerdings aus, eine Verletzung kam noch dazu, der Rücktritt war die logische Konsequenz. ÖSV-Funktionäre und Journalisten atmeten auf, Gespräche mit und Geschichten über Schinegger waren ihnen peinlich gewesen. Feig waren sie, sagt er.

"Angegafft"

Der Sport ist seine große Krücke gewesen, sagt Erik Schinegger, damals ist die Krücke weggebrochen. Andere Krücken mussten her, ein 180-PS-Porsche beispielsweise, Erik ging es darum, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen. Dass er bei jungen Frauen gut ankam, sagt er, habe ihm in seiner Entwicklung nicht geschadet. "Ich habe mich bestätigen müssen." Er ist nicht etwa weggegangen aus seiner Heimat, sondern Agsdorf treu geblieben, Agsdorf liegt gleich bei St. Urban, eine halbe Autostunde von Klagenfurt entfernt. Und Erik ist auch weiterhin in die Kirche gegangen – in der Kirche saßen die Frauen links, die Männer rechts. Das sei schlimm gewesen, quasi von einem Sonntag auf den anderen die Seite zu wechseln. "Alle haben sich umgedreht und mich angegafft."

Erik Schinegger hat kein Problem damit, seine Geschichte zu erzählen, im Gegenteil, er erzählt sie gerne, und er wird nicht müde, sie zu erzählen. Ein wesentlicher Teil der Geschichte dreht sich um sein Ego, das er immer wieder bestätigen musste und noch heute bestätigen will. Damals hat Erik geheiratet und auch so sein Selbstwertgefühl gestärkt. Und als er dann, 1978, noch Vater einer Tochter wurde, war sein Glück perfekt. "Noch dazu, wo mir die Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Ich wollte zeigen, dass ich ein echter Mann bin, und die Geburt der Tochter war der beste Beweis."

Heute ist er dreifacher Großvater, aber beweisen will er es sich und allen immer noch. Die Einladung zu Dancing Stars im Vorjahr kam ihm nicht ungelegen, auch der tränenreiche Abschied wegen einer Muskelverletzung hat seiner Popularität nicht geschadet. "Mein Name ist wieder aufgetaucht", sagt er, "und zum Dschungel-Camp haben sie mich angefragt." Da hat Erik aber dankend abgelehnt, schließlich hat er noch ein anderes Leben, das Leben daheim in St. Urban.

Skischule und See

Erik ist ein durchaus aktives Mitglied der Dorfgemeinschaft, er geht nicht mehr so regelmäßig wie früher, aber doch ab und zu in die Kirche, und in der Kirche setzt er sich hin, wo es ihm gerade passt. Nachher steht man beisammen, oder man geht ins Wirtshaus. Die Umgebung ist ein echter Glücksfall, auch für Schinegger, der führt im Winter auf der Simonhöhe die zweitgrößte Kinder-Skischule Kärntens ("mit Erfolgsgarantie"). Im Sommer führt er das große Strandbad-Restaurant am Urbansee, wobei diese Saison Schineggers letzte am See sein könnte.

Bis vor acht Jahren gab's auch noch die "Pension Erika", in der Schinegger mehr als zehn Jahre lang Asylwerber untergebracht hatte. Einige blieben wenige Tage, andere mehrere Monate in Agsdorf, einige durften nach positiver Bescheinigung des Asylantrags in Österreich bleiben, andere mussten wieder nach Hause, einige dieser anderen tauchten unter. "Das Leben hat mich Toleranz gelehrt", sagt Schinegger.

FP-Gemeinderat

Nicht so bekannt ist, dass er aktuell in St. Urban im Gemeinderat sitzt - für die FPÖ. Das ist auch deshalb nicht so bekannt, weil er darüber nicht so gerne redet. Denn er sei, sagt er, "kein Parteimitglied", er habe "kein Parteibuch" und in vielen Bereichen "eine total andere Weltanschauung als die FPÖ". Ihm sei es, als er sich aufstellen ließ, nur darum gegangen, Bürgermeister Dietmar Rauter (FPÖ) zu unterstützen, dieser sei "ein guter Mann". Und im Übrigen, sagt Schinegger noch, wird es ja sehr bald Wahlen in Kärnten geben, "und dann bin ich nicht mehr dabei". Im April fährt er gemeinsam mit seiner zweiten Frau auf Urlaub, nicht wie früher nach Ägypten ("zu gefährlich"), sondern in die Türkei.

Lieber als über die FPÖ redet Erik Schinegger über Erik Schinegger und über die Skischule, die seit 40 Jahren besteht. Schinegger feiert die Feste, wie sie fallen. 2014 Dancing Stars, 2015 vierzig Jahre Skischule, 2016 fünfzig Jahre WM-Titel. "Natürlich wäre es schön gewesen, wenn gleich nach der Geburt die richtige Zuteilung erfolgt wäre", sagt Schinegger. Doch wahrscheinlich, sagt er, hätte es Dancing Stars dann nicht gespielt. Er wäre in Frankreich nicht so populär, wie er es ist, weil er Marielle Goitschel, der WM-Abfahrtszweiten 1966, einige Jahre später seine Goldmedaille überreichte. Er hätte seine Biografie nicht 100.000-mal verkauft ("Mein Sieg über mich – Der Mann, der Weltmeisterin wurde"). Die Doku "Erik(A)" (Regie Kurt Mayer) wäre ungedreht geblieben.

Vor Jahren platzte ein Hollywood-Filmprojekt über Eriks Leben, als der Geldgeber absprang. Nun, sagt Schinegger, gibt es ein neues Drehbuch eines deutschen Regisseurs. Er denkt über eine Neuauflage seiner Biografie nach. Und jetzt gleich muss er das nächste Skikursrennen vorbereiten. Denn es gibt zwar immer etwas zu erzählen. Aber es gibt auch oft etwas zu tun. (Fritz Neumann, DER STANDARD, 23.2.2015)