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Erst flogen die Fäuste, dann kam der Sitzstreik: Abgeordnete der Regierung schlugen während der Debatte über die neuen Polizeigesetze zu, die Opposition trat in den Ausstand.

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Ankara/Athen - Der Parlamentspräsident hat halb amüsiert mitgezählt. Exakt 237-mal hat der Istanbuler Abgeordnete Süleyman Çelebi "Tod dem Faschismus" gerufen. Das heißt, eigentlich hat er seine fünf Minuten Redezeit in der Nacht auf Sonntag nur für diesen Schlachtruf genutzt - angefeuert von seinen Kollegen auf den Oppositionsbänken und den rechten Arm im Rhythmus der zwei Worte auf- und abschwenkend, die er der konservativ-islamischen Regierungspartei AKP entgegenschleuderte: "Karohlsun fasizm!"

Für eine inhaltliche Debatte über die neuen türkischen Sicherheitsgesetze sahen Sozialdemokraten, Nationalisten und die Vertreter der Kurdenpartei zu diesem Zeitpunkt schon keinen Sinn mehr. Gegen ein Uhr früh begannen einige von ihnen mit einem Sitzstreik. Im Kreis setzten sie sich um das runde Blumenbeet, das im Parlament von Ankara die Sitzreihen der Abgeordneten von Rednertribüne und Regierungsbank trennt. "Wir werden uns das Gesetz nicht wegnehmen lassen", twitterte da Yalçin Akdogan, der Vizepremier und Erdogan-Vertraute. "Die Nationalversammlung zu einem Platz für Spektakel zu machen ist respektlos gegenüber der Nation."

"Staatsstreich" per Gesetz

Zehn der insgesamt 132 Artikel hat die AKP dank ihrer absoluten Mehrheit bis zum Sonntagmorgen durchgedrückt. Einen Staatsstreich nannte die Soziologieprofessorin und CHP-Abgeordnete Binnaz Toprak das Vorgehen der Regierung sowie die neuen Sicherheitsgesetze.

Als Anlass für die Verschärfung der ohnehin bereits recht strengen Polizeigesetze nahm die türkische Regierung die Straßenkrawalle vom Oktober vergangenen Jahres. Damals rief der Ko-Vorsitzende der Kurden- und Linkspartei HDP, Selahattin Demirtas, die Kurden auf, landesweit gegen die passive Haltung der Türkei bei den Kämpfen der syrischen Kurden in Kobane gegen die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) zu protestieren.

Demirtas' Fehler

In der Folge kam es in der Türkei zu den schwersten Zusammenstößen seit den 1990er-Jahren, als die Armee im Südosten des Landes Krieg gegen die PKK und die kurdische Zivilbevölkerung führte. Mehr als 30 Menschen starben. Demirtas' Aufruf galt auch in den Reihen der Opposition als politischer Fehler.

Die neue Machtfülle der Polizei, aber auch der vom Staatschef eingesetzten Provinzgouverneure wird sich nun nicht nur bei den regelmäßig aufflackernden Konflikten zwischen Staat und Kurden zeigen, so die Befürchtung der Opposition, sondern auch bei jeder anderen regierungskritischen Kundgebung in der Türkei. Polizisten im Einsatz können fortan ohne richterliche Genehmigung und lediglich auf Anordnung eines vorgesetzten Beamten Personen durchsuchen und für 24 Stunden festnehmen; beim Verdacht eines "Kollektivverbrechens" kann die Festnahme auf 48 Stunden ausgedehnt werden. Der Richterentscheid wird nachgereicht. Eine Reihe von EU-Ländern hat ähnliche Gesetze, verteidigte sich die Regierung. Anders als in der EU aber nutze die Regierung die Polizei gegen Andersdenkende, sagt die Opposition. (Markus Bernath, DER STANDARD, 23.2.2015)