Die Umfragen der vergangenen Monate waren deutlich genug. Viktor Orbán musste mit der Niederlage in der Nachwahl in Veszprém am Sonntag rechnen. Vorsorglich wiegelte er ab: Der Verlust der Zweidrittelmehrheit im Parlament wäre keine Katastrophe - die wichtigsten Projekte seien ja bereits abgehakt. Das Allerwichtigste darunter - und daran hatte Orbán schon vor seiner zweiten Regierungsübernahme im Jahr 2010 keinen Zweifel gelassen: langfristige Machtabsicherung durch entsprechende Gesetze und personalpolitische Weichenstellungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Demokratie ist für Orbán dann gut, wenn sie seinen Vorstellungen von einem starken Staat dient, einem Staat, der den Menschen nicht nur sagt, was gut für sie ist, sondern sie auch dazu bringt, danach zu leben. Wissen sie diese Fürsorge nicht zu schätzen, muss man sie eben zu ihrem Glück zwingen, mehr oder weniger sanft. Denn im Grunde - das lässt der Nationalpopulist unausgesprochen, aber unmissverständlich mitschwingen - sind die Menschen zu dumm für die Demokratie mit ihrem permanenten, mühsamen Interessenausgleich. Deshalb muss man sie mit einfachen, emotional besetzten Themen beschäftigen - der nationalen Größe beispielsweise; und mit staatlichen Wohltaten ködern - der Senkung der Energiepreise beispielsweise.

Was Orbán ganz offen sagt: Demokratie sei keineswegs per definitionem liberal und pluralistisch. Damit stellt er sich klar gegen das Selbstverständnis der Europäischen Union, zu deren Grundpfeilern eben die liberale Demokratie zählt. In ihr darf jeder nach seiner Fasson glücklich werden - vorausgesetzt, er hält sich an die allgemein anerkannten Regeln.

In diesem Sinn war eine Szene bei Orbáns jüngstem Brüssel-Besuch nicht nur amüsant, sondern auch in höchstem Maße symbolhaft: Nach der gemeinsamen Pressekonferenz schüttelte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dem ungarischen Premier die Hand - um den verdutzten Gast dann gleich mit sich von der Bühne zu ziehen. Vermutlich ist das eine Sprache, die der Tatmensch Orbán besser versteht als Moralpredigten und Wertedebatten.

Ob mit umstrittenen Gesetzen im Bereich der Medien, der Justiz und im Bankenwesen, ob mit Versuchen zur Kontrolle des Internets - Orbán lotet stets aus, wie weit er gehen kann, und macht bei entsprechendem Widerstand einen Teilrückzieher. Unter dem Strich hat er dann immer noch mehr als zuvor. Jüngstes Beispiel ist der Deal mit der Erste Bank: Senkung der hohen Bankensteuer gegen Staatsbeteiligung an der ungarischen Tochter der Bank.

Entgegen seiner nationalen Rhetorik ist Orbán kein "Gesinnungstäter", sondern knallharter Machtpolitiker mit einer gehörigen Portion Zynismus. Darin ähnelt er Wladimir Putin, und wie gut die beiden einander offensichtlich verstehen, konnte man vor wenigen Tagen beim Besuch des Kremlchefs in Budapest mitverfolgen.

Doch Orbáns Stärke lag bisher nicht nur in seinem politischen Instinkt und seiner Kaltblütigkeit, sondern auch in der Schwäche seiner Gegner. Bei der Nachwahl in Veszprém siegte die demokratische Opposition mit einem gemeinsamen, unabhängigen Kandidaten. Dass Orbán die Botschaft verstanden hat, darf man annehmen. Ob das auch für die Opposition gilt, die auf nationaler Ebene weiter zersplittert bleibt, ist weit weniger gewiss.

(Josef Kirchengast, DER STANDARD, 24.2.2015)