Regimekritiker mögen es eine zynische Wahrheit nennen, doch Nordkoreas Wirtschaft floriert derzeit wie schon lange nicht mehr. Erstmals seit Jahrzehnten konnte der Staat genug Nahrungsmittel produzieren, um den Bedarf der Bevölkerung aus eigener Kraft zu decken. Laut der Prognose eines Seouler Thinktanks könnte die Wirtschaft in diesem Jahr gar um satte 7,5 Prozent wachsen – nachdem sie in den Vorjahren stets bei einem Prozent vor sich hindümpelte.
Natürlich muss man sich immer auch die Dimension vor Augen halten: Im Vergleich zu seinen südlichen Nachbarn nimmt der durchschnittliche Nordkoreaner noch immer nur etwas mehr als halb so viel an Kalorien zu sich. Alarmierende Hungersnöte gehören jedoch seit der Jahrtausendwende der Vergangenheit an.
Saat der Marktwirtschaft
Still und heimlich hat Kim Jong-un in den vergangenen zwei Jahren einen Weg eingeschlagen, den ihm einst Deng Xiaoping in den späten 70er-Jahren nach Maos Tod geebnet hat. Die frische Saat der freien Marktwirtschaft trägt auch in Nordkorea erste Früchte.
Besonders wirksam greifen die Reformen in der Landwirtschaft. Seit 2013 dürfen sich Familien zu Kleinstkollektiven zusammenschließen, 30 Prozent ihrer Ernte behalten und zu Marktpreisen weiterverkaufen. Jeden zusätzlichen Überschuss über die Produktionsvorgaben müssen sie nicht mehr an den Staat abgeben. Seit vergangenem Jahr werden ihnen sogar 60 Prozent des Ernteertrags zum Eigenbehalt versprochen. Zudem darf jeder Haushalt mittlerweile nicht mehr nur 100 Quadratmeter an persönlichem Land besitzen, sondern gleich das Zehnfache davon. Auf diesen Flächen dürfen sie meist frei aussuchen, welche Nahrungsmittel sie anbauen.
Bauern toppen Ertrag
Bereits im Herbst 2013 hatte Nordkorea mit knapp mehr als fünf Millionen Tonnen eine der ertragreichsten Getreideernten aller Zeiten eingefahren. Während Skeptiker das auf die günstigen Wetterbedingungen zurückführten, wurden sie schon im Folgejahr eines Besseren belehrt. Nach einer Dürreperiode im Frühling, die früher noch zu massiven Ernteeinbrüchen geführt hätte, konnten die nordkoreanischen Bauern ihren Vorjahrsertrag sogar noch leicht toppen.
Löhne selbst bestimmen
Die Reformen beschränken sich freilich nicht auf den Landwirtschaftssektor. Leiter von Staatsbetrieben dürfen beispielsweise seit letztem Frühjahr die Löhne ihrer Angestellten selber bestimmen, Teile ihrer Produkte zu Marktpreisen verkaufen und sogar ins Ausland exportieren. Der private Sektor macht zwischen 30 und 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Es gibt de facto private Restaurants im Land, Kohlebergwerke und Fabriken.
Viel wurde darüber diskutiert, warum Kim Jong-un seiner Bevölkerung diese neue Freiheit gewährt. Tatsächlich zeigt sich der 32-Jährige im Gegensatz zu seinem Vater stärker am wirtschaftlichen Wohl seiner Landsleute interessiert. Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille.
Schmuggelrouten etabliert
Tatsächlich geben die Wirtschaftsreformen bereits jahrelang im Schatten der Illegalität existierenden Praktiken einen gesetzlichen Rahmen. Seit dem Zusammenbruch des staatlichen Verteilungssystems in den 90er-Jahren haben sich Schwarzmärkte gebildet, Schmuggelrouten etabliert und sich das Gros der Familien ihr täglich Brot aus eigener Handelstätigkeit verdient.
Eine essenzielle Motivation hinter den Reformen dürfte reiner Selbsterhaltungstrieb sein. Während Kim Jong-il Marktreformen noch regelrecht fürchtete aus Angst, soziale Unruhe auszulösen, dürfte Kim Jong-un der Tatsache ins Auge gesehen haben, dass ihm das bestehende Systems nicht bis ans Lebensende den Diktatorensessel sichert. Je mehr Informationen Nordkoreaner über ihre wohlhabenden Nachbarstaaten erhalten, desto stärker fordern sie auch ihr Stück vom Kuchen ein.
In einer Sache unterscheidet sich Kims Reformwille jedoch von Dengs: Bei gleichzeitiger Liberalisierung der Wirtschaft wird die ideologische Kontrolle zunehmend rigider. Die Grenzkontrollen zu China wurden verstärkt sowie härtere Strafen für den Besitz von ausländischen Filmen und illegalen Radiogeräten eingeführt. Diese innere Spannung wird sich nicht ewig aufrechterhalten lassen. (Fabian Kretschmer, derStandard.at, 27.2.2015)