Bild nicht mehr verfügbar.

"Oh my God" (OMG): Wir sind jung, wir sind schön, wir sind reich - und machen ein Selfie, damit es auch alle anderen sehen können.

Foto: picturedesk

Reichtum geht eigentlich ziemlich einfach. Ein schönes Haus, ein schnelles Auto, Designerklamotten. Und dann ab zur Party. Mit Champagner oder Wodka, Hauptsache genug davon. Gut hat es, wer nicht nur reich ist, sondern auch jung, denn da macht Feiern noch richtig Spaß.

Wer als Teenager am Abend seine Luxusuhr oder Designerhandtasche ausführt, wird beneidet. Und darum geht es. All jene, die nicht wissen, wie sich diese Art von Reichsein anfühlt, bekommen seit Jahren jede Menge medialen Nachhilfeunterricht: In OC California, Gossip Girl, Germany's Next Top Model oder Rendezvous im Paradies geht es nur um Oberflächen: Schönsein, Reichsein und Leben wie die Superreichen.

Doch dann passiert das: Der 16-jährige Ethan Couch, einziger Sohn wohlhabender Eltern aus Fort Worth in Texas, feierte solche Partys. Betrunken bricht er mit seinen Freunden zu einer Spritztour auf. Spaß haben eben. Bei einer Geschwindigkeit von 120 km/h fährt Couch eine Gruppe Jugendlicher nieder, die wegen einer Autopanne am Straßenrand stehen.

Kein Schuldbewusstsein

Vier von ihnen sterben. Im Sommer 2014 steht Ethan Couch vor Gericht. Ganz ohne Schuldbewusstsein. Der Psychologe G. Dick Miller attestiert dem verwöhnten Teenager "Affluenza": einen geistigen Zustand, der es dem Beschuldigten nicht erlaubt, die Konsequenzen für seine Handlungen einzuschätzen, weil seine Eltern ihm das nie beigebracht haben. Vielmehr haben sie ihm stets eines vermittelt: dass man sich mit Geld alles erkaufen kann.

Und irgendwie haben sie auch recht: Denn mit diesem Gutachten gelingt es den Anwälten von Ethan Couch, ihn vor dem Gefängnis zu bewahren. Er wird zu zehn Jahren Rehabilitation in einer Spezialeinrichtung verurteilt. Die jährlichen Kosten von 445.000 Dollar tragen die Eltern. Das Urteil empörte nicht nur die Angehörigen der Opfer, sondern auch eine breite Öffentlichkeit in den USA. Ein "Rich Kid", das ohne jedes soziale Verantwortungsgefühl zu einem Mörder wird, seine Tat nicht bereut und dann auch noch glimpflich davonkommt. Dieser Skandal hat die Bezeichnung Affluenza populär gemacht.

Soziale Abweichung

"Der menschliche Geist tendiert dazu, Abweichungen von der Norm schnell als Krankheit oder Syndrom zu kategorisieren. Affluenza per se ist aber sicherlich keine psychische Störung", sagt Kinder- und Jugendpsychiater Patrick Frottier, der mit sozial oder psychisch gefährdeten Jugendlichen arbeitet. Er kann allerdings den Reiz des Wortes für ein aktuelles gesellschaftliches Phänomen verstehen.

Affluenza setzt sich aus den beiden Worten "affluence" (englisch für Wohlstand) und Influenza, der Grippe, zusammen. Das klingt nach Ansteckung und Gefahr. Und das scheint auch passend. Riskiert man einen Blick auf Instagram, das wortlose Bilder-Eldorado und Kommunikationsmittel heutiger Teenager im Internet, findet man schnell entsprechende Kanäle, die sich Millionen von Zugriffen erfreuen.

Itslavishbitch zum Beispiel ist ein brillentragender 19-jähriger Teenager in San Francisco, der sich als arabischen Prinzen präsentiert und zeigt, was er sich alles kauft. "My life is like Louis Vuitton, everyone wants it", titelt er seine Seite, auf der er sich zwischen iPhones, Champagner und Seidenschals bewegt. Geldbündel gibt es als Auflockerung. Auf "Rich kids of Instagram" mit dem Motto "They have more money than you and this is what they do" folgen Endlos-Bilderschleifen von Partys, Yachten, Limousinen, Pools, Luxuskarossen und Uhren.

Freiheit oder Grenzen

"Ich will ein A-List-Typ sein", sagt Marc, Protagonist in Sofia Coppolas Film Bling Ring, in dem eine Bande Jugendlicher die Villen von Prominenten ausraubt. Das Drehbuch beruht auf einer wahren Geschichte und bringt das Grundproblem auf den Punkt. Die Insignien von Reichtum sind ein Mittel, um Teil der Celebritywelt zu sein. Die Jugendlichen haben ihn vom tatsächlichen Wert der Dinge total entkoppelt und verschwenden keine Sekunde an den Gedanken, wie lange sie für eine 5000 Euro Birkin-Bag von Hermès arbeiten müssten.

Phänomene, die im Film überzeichnet wirken, gibt es im wirklichen Leben aber sehr wohl - zum Beispiel in Patrick Frottiers Praxis, in der er auch Kinder wohlhabender Eltern behandelt. Er sieht deren Problematik in der Dualität von Freiheit und Grenze angesiedelt.

"Wenn alles möglich und jeder Wunsch erreichbar ist, hat sehr schnell nichts mehr einen Wert, häufig nicht einmal mehr eine psychotherapeutische Sitzung", sagt er aus eigener Erfahrung. Primär sei ja nicht der Reichtum, sondern der Umgang damit das eigentliche Problem.

Grenzenlos macht unsicher

Wenn alles möglich ist, endet Freiheit nämlich schnell in einer Beliebigkeit, die gerade für Teenager auf der Suche nach einer eigenen Identität zu Problemen führen kann. "Grenzen geben Sicherheit", sagt er, und Beliebigkeit verhindere das Entwickeln einer eigenen Identität, eigener Werte und damit der Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen.

Ziel einer Psychotherapie sei es deshalb, das Konzept von Eigenverantwortung zu vermitteln. Am anderen Ende der Gesellschaftsskala, also bei den Kindern aus sozial und einkommensschwachen Schichten, gehe es, sagt Frottier, übrigens genau um dasselbe Ziel. Das, was Rich Kids als Beliebigkeit erleben, ist für arme Jugendliche das Fehlen von Möglichkeiten.

Die Konsequenz, so der Kinder- und Jugendpsychiater, bei Arm und Reich: die Verweigerung, Verantwortung zu erkennen und zu tragen. Der texanische Teenager wäre in Österreich sicher ins Gefängnis gekommen, ist Frottier überzeugt. Er war früher auch ärztlicher Leiter der Sonderstrafanstalt am Mittersteig in Wien. Die Chance, dass Jugendliche in Gefängnissen, so wie sie derzeit konzipiert sind, lernen, Verantwortung zu übernehmen, sei unwahrscheinlich, sagt er.

Wirtschaftskrise ignorieren

Der britische Psychologe und Autor Oliver James betrachtet das Rich-Kids-Phänomen in einem größeren Kontext: "Es gibt einen Zusammenhang zwischen zunehmender Affluenza und einer größer werdenden, materiellen Ungleichheit innerhalb unserer Gesellschaft", sagt er. Je größer die Kluft zwischen Arm und Reich, umso mehr sehnen Menschen Reichtum herbei. Wünsche, die die Unterhaltungsindustrie gerne erfüllt.

Ähnlich sieht es auch die österreichische Psychologin Karin Lebersorger, die das Institut für Erziehungshilfe in Wien-Floridsdorf leitet. "Eines der wichtigsten Ziele von Erziehung ist es, Jugendliche zu empathiefähigen, sozial kompetenten Mitgliedern einer Gesellschaft zu machen", definiert sie die Aufgabe von Eltern und Pädagogen und sieht in der Affluenza heute schlicht das, was früher "Wohlstandsverwahrlosung" hieß.

"Seit 2008 haben wir eine Wirtschaftskrise, Menschen verlieren ihre Existenz, das ist eine Realität, die auch an wohlhabenden Familien nicht vorbeigehen muss", sagt sie. Es sei die Entscheidung von Eltern, solche gesellschaftlichen Themen mit Heranwachsenden zu diskutieren.

Mangelnde Zuwendung

"Verwahrlosung, ob durch Wohlstand oder nicht, hat mit mangelnder Zuwendung und emotional zu wenig sicheren Beziehungen in der frühen Kindheit zu tun", sagt Lebersorger und sieht in Bezug auf Affluenza noch eine Ursache: häufig wechselnde Betreuungspersonen wie etwa Aupairs oder Kindermädchen.

"Das wirkt sich auf die neurobiologische Entwicklung der Spiegelneuronen aus, ohne die später Empathiefähigkeit nur schwer möglich ist", so die Psychologin. Eltern, die durch Geschenke ihre Abwesenheit und unbewussten Schuldgefühle kompensieren, erzeugen bei den Beschenkten eine Vermischung von materiellen und emotionalen Werten. "Manche Kinder reagieren sensibel darauf."

Ein anderer Grund von Verwahrlosung kann auch in übertriebener Verzärtelung liegen, der vor allem reiche Einzelkinder stark ausgesetzt sein können: "Sie lernen nicht, dass sie ein Kind unter vielen sind, nicht immer im Mittelpunkt stehen und all ihre Wünsche erfüllt werden können", so Lebersorger. Rücksicht und soziale Kompetenz seien aber für ein erfülltes Leben entscheidend. Daraus können sich narzisstische Züge entwickeln: Ethan Couch ist ein Beispiel.

Gefühl der Leere

Allerdings: "Fantasien, reich, grenzenlos und berühmt zu sein, gehören zum Prozess der Identitätsfindung in der Adoleszenz, normalerweise bleiben es aber Fantasien. Für die Rich Kids ist es eine besonders große Herausforderung, eigene Wünsche zu entwickeln", sagt Lebersorger. Diejenigen, die das nicht schaffen, können von einem Gefühl der Leere beherrscht werden. Folgen sind oft Drogen- und Alkoholmissbrauch. "Wer sich täglich zukifft, verliert jede Ambition", sagt sie.

Eine extreme Form von Verweigerung, die Psychiater beobachten, ist Hikikomori, der totale Rückzug von Jugendlichen, in Japan ein verbreitetes Phänomen. Jugendliche nutzen das bourgeoise Umfeld, bleiben zu Hause vor dem PC, gehen nicht raus. "Es ist eine Form von Widerstand und passiver Aggression, eine totale Anstrengungsvermeidung in der Leistungsgesellschaft", sagt Frottier, "in seiner Radikalität hält es dem System aber den Spiegel vor". (Karin Pollack, DER STANDARD, 28./29.2.2015)