Wie man die Geschichten von Gemälden in Worte und Gesten übersetzt: Frederick Wiseman besucht in "National Gallery" das gleichnamige britische Museum — und nimmt an Führungen teil.

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Der US-Filmemacher Frederick Wiseman.

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STANDARD: Dokumentarfilme über Kunstmuseen tendieren meist nicht dazu, die Kunst in den Mittelpunkt zu rücken. Das ist bei Ihnen anders: Wie kam es zu diesem Fokus?

Wiseman: Ich kenne die anderen Filme nicht, aber wieso soll man einen Film über ein Museum machen, wenn man die Kunst nicht zeigt? Das liegt doch auf der Hand!

STANDARD: Sie hätten etwa die umstrittenen Privatisierungsbestrebungen in der National Gallery thematisieren können.

Wiseman: Das ging erst später los. Aber ich versuche natürlich auch, die strukturellen Bedingungen, etwa Sitzungen der Geschäftsleitung, mitzuberücksichtigen.

STANDARD: Die häufigsten Szenen sind aber jene, in denen Sie Führungen begleiten. Was interessierte Sie an der Kunstvermittlung?

Wiseman: Es geht darum, die Rolle der Kunst zu unterschiedlichen Zeiten zu thematisieren. Ich wollte die Natur der Gemälde ergründen, die ja bis zur Moderne auch diverse Wege zeigen, wie unterschiedlich man Geschichten erzählen kann – in diversen Formen.

STANDARD: Mit der Darstellung der Malerei treffen im Film zwei Medien aufeinander: Wie filmt man Gemälde adäquat?

Wiseman: Das war tatsächlich einer der Leitfäden des Films: Sooft es ging, wollte ich die Bilder innerhalb ihres Rahmens filmen, sodass das Gemälde die ganze Einstellung ausfüllen würde. Man sieht weder den Rahmen noch die Wand oder das Schildchen, auf dem der Künstlername steht. Das war nicht immer möglich, weil es un terschiedliche Formate gibt. Doch 80 Prozent der Einstellungen sind so entstanden – ich dachte, das würde die Bilder lebendiger erscheinen lassen. Hätte ich sie an der Wand gezeigt, wären sie zu Objekten geworden.

STANDARD: Sie zeigen aber auch Detailaufnahmen der Gemälde.

Wiseman: Man kann die filmischen Mittel dazu verwenden, ganze Bildserien über ein Gemälde zu drehen – das Gemälde nähert sich so dem Film an, wo man einzelne Szenen in Einheiten aufbricht. Man kann die Geschichte des Gemäldes auf eine serielle, zeitliche Linie übertragen – das gelingt dem Auge nicht, weil es alles gleichzeitig sieht. Und das berührt natürlich die Frage nach der Beziehung zwischen Malerei und Film – und anderen Kunstformen.

STANDARD: Was mir besonders gefallen hat, waren die vielen versteckten Bilder: der Rembrandt, hinter dem sich ein weiterer Rembrandt verbirgt. Holbeins "Die Gesandten" mit dem anamorphotischen Totenschädel.

Wiseman: In vieler Hinsicht kann man die Bilder nur verstehen, wenn man etwas über ihre jeweilige Zeit weiß. Über die Leute, die sie gemalt haben, über die Symbole, für die sie sich entschieden haben. Wenn man auf das Holbein-Bild schaut, ohne zu wissen, wer da abgebildet ist, kann man das technische Vermögen des Malers bewundern, aber die an dere Hälfte, das, was es darstellen soll, entgeht einem. Der Kunstvermittler sagt ja, es gebe sogar die Theorie, dass das Bild einen Mord thematisiert.

STANDARD: Apropos Wahrnehmung: Einmal zeigen Sie, wie Blinden Kunst nähergebracht wird.

Wiseman: Das hat mich sofort in ter essiert: Beim Malen geht es schließlich ums Sehen. Ich wollte wissen, wie man diesen Menschen ein Bild vermitteln kann. Die Frage nach dem Blick und den Konsequenzen des Blicks wird von Beginn an gestellt. Ich verwende den Film, um auf die Leute zu blicken, um zu zeigen, wie sie auf Gemälde blicken – und wie die Gemälde zurückschauen.

STANDARD: Die Bilder sehen auch zurück?

Wiseman: Natürlich tun sie das – metaphorisch. Ich habe diese Blickverhältnisse im Schnitt berücksichtigt. Im Schnitt muss ich ein dramatisches Narrativ erstellen. Es ist thematisch orientiert, drückt aber auch eine Position gegenüber dem Material aus.

STANDARD: Sie haben vor fast 50 Jahren begonnen, Filme in Direct-Cinema-Art zu drehen. Ist es nicht schwieriger geworden, Menschen "authentisch" zu erwischen?

Wiseman: Das hat sich nicht so stark verändert. Es war immer einfach, die Erlaubnis zu bekommen. Mein Geheimnis: Ich frage stets, ob ich darf. Mit ein paar Ausnahmen war das stets erfolgreich. Und die Leute schauen immer noch nicht in die Kamera, sie ändern ihr Verhalten nicht. Als ich meinen ersten Film in Frankreich drehte, sagte ein französischer Freund von mir, ich würde es hier nie so hinbekommen. Die Leute wären zu individualistisch. Der erste Film, den ich dort drehte, war der über die Comédie-Française: Die Schauspieler haben gespielt, wenn sie gespielt haben; und wenn sie in Konferenzen waren, waren sie in Konferenzen.

STANDARD: Wie wählen sie die Themen aus – jetzt kommen ja oft Kulturinstitutionen zum Zug?

Wiseman: Ich versuche, Filme über so unterschiedliche Themen zu machen, wie ich kann. Es ist nicht so, dass ich mich nicht mehr für Soziales interessiere. Institutionen sind nur eine Entschuldigung dafür, um zu schauen, wie Menschen agieren, sich betätigen – in einem eingeschränkten Umfeld.

STANDARD: Sie haben nie einen Film über eine Zeitung gemacht.

Wiseman: Das habe ich mehrmals versucht – vor langer Zeit auch bei der New York Times. Ich habe keine Erlaubnis bekommen. Aber jetzt ist es dafür eigentlich zu spät.

STANDARD: Zu spät?

Wiseman: Weil sie verschwinden. Es ist merkwürdig mit Zeitungen: Sie meinen, sie haben das Recht, über alles Mögliche zu schreiben. Aber wenn man einen Blick auf sie werfen will, sagen sie Nein!

STANDARD: Jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt – mit all den Herausforderungen der Digitalisierung.

Wiseman: Das stimmt schon: die Umstellungen, das Bloggen und der Qualitätsverlust. Sie können sich die guten Reporter nicht mehr leisten. Beziehungsweise wird es schwieriger, lange, gut recherchierte Texte zu finden. Ich verstehe nicht, warum man nicht auf der Qualität und den Notwendigkeiten des Berichtens aufbaut und sich damit abzusetzen versucht. All diese Blogs sind doch nur Meinungsäußerung, darauf kann ich nicht vertrauen. Vielleicht bin ich naiv, aber ich hatte das Gefühl, es gibt Journalisten, auf deren Fakten man vertrauen konnte – zumindest haben sie sich redlich bemüht. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 28.2./1.3.2015)