Frauenrechtlerin Imelda Marrufo gedenkt der Frauen, die spurlos aus Juárez verschwunden sind. Die Gewalt reißt nicht ab.

Foto: Lisa Maria Hagen

Ihre Finger krallen sich an ein neongelbes Schild. "Wir wollen keine Knochen – wir wollen sie lebend!" steht darauf. Das soll Enrique Peña Nieto, Präsident von Mexiko, lesen, wenn er an Imelda Marrufo vorbeifährt. Er soll wissen, dass der Krieg noch nicht gewonnen ist, dass Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua im Norden Mexikos noch immer tödlich ist.

Eisig fährt der Wind durch die breiten Straßen der Grenzstadt, deren Ränder US-amerikanische Fastfoodketten säumen. Hinter Mauer und Maschendrahtzaun liegen die Träume und Sehnsüchte vieler Mexikaner begraben: El Paso, Texas, lockt mit Wohlstand und Sicherheit. Juárez mit billigen Medikamenten und Benzin.

2010 erreicht die Gewalt in Juárez ihren tragischen Höhepunkt. Damals sterben täglich zehn Menschen im Kampf der Kartelle, der Regierung und des Militärs. Heute liegt die Mordrate bei statistischen 1,2 Menschen pro Tag. Für die Regierung ein Erfolg, für die Menschen in Juárez noch lange nicht genug. Die Stadt hüllt sich in ein graues Nebelkleid, Polizeitrupps bewaffnen sich mit Schutzschildern und Tränengas und sperren die Straßen. Sie erwarten den Präsidenten, der ein Freizeitzentrum für Polizisten eröffnen soll. Während Juárez' blutiger Jahre galten 80 Prozent der Polizisten als korrupt. Viele wurden gefeuert, das Militär marschierte ein, um Ordnung zu schaffen. Mittlerweile sind sie abgezogen, die Wirtschaft zieht wieder an. Für die mexikanische Regierung gilt das "Modell Juárez" als Musterbeispiel ihrer Arbeit gegen Gewalt, Korruption und organisiertes Verbrechen.

Imelda Marrufo glaubt nicht an das Modell Juárez. Die sinkende Kriminalitätsrate hätten sie den Drogenkartellen zu verdanken, die ihre Rivalitäten beigelegt hätten. Seit mehr als 20 Jahren kämpft die Frauenaktivistin: für die Mädchen, die jeden Monat verschwinden, deren verstümmelte Körper manchmal Monate, meist Jahre später in der Wüste vor Juárez ausgegraben werden. Für die Eltern, deren Leben seit dem Verschwinden ihrer Töchter in der Warteschleife sind. Und für die Bewohner von Juárez, die endlich frei sein wollen.

Hochburg der Frauenmorde

In den Neunzigerjahren erlangte Juárez international traurige Bekanntheit als Hochburg der Frauenmorde. 2001 gründet Marrufo das Netzwerk "Red Mesa de Mujeres", das den Familien der Verschwundenen psychologische Unterstützung und rechtliche Beratung bietet. Olga Esparzas Tochter ist vor sechs Jahren auf dem Weg nach Hause verschwunden. Schon tausendmal hat sie Mónicas Geschichte erzählt: der Polizei, der Staatsanwaltschaft, den Medien. "Am Anfang habe ich noch daran geglaubt, dass die Polizei sie mir zurückbringen würde", sagt Esparza, "aber ich habe lernen müssen, dass die Verschwundenen die mexikanische Regierung nicht interessieren." Vor drei Jahren wurde ein Oberschenkelknochen in der Wüste gefunden. "Wie erklärst du den Eltern, dass dieser Knochen alles ist, was von ihrer Tochter geblieben ist?", fragt Marrufo.

Anderthalb Stunden hat Peña Nieto die Polizisten in der Eiseskälte warten lassen. Gehetzt tritt er vor das Rednerpult und lobt sie überschwänglich als Schöpfer der neuen Sicherheit in Juárez. Kein Wort über die Frauenmorde, die anhalten. Kein Wort über die Mordrate, die wieder ansteigt. Der Gouverneur von Chihuahua stimmt ein in das Loblied und verspricht jedem Polizisten, der über fünf Jahre eine weiße Weste vorweisen kann, ein zinsloses Darlehen zum Hauskauf. Die Polizisten klatschen.

Marrufo sitzt mit Anwalt Luis Hinojos beim Mittagessen. "Ein Arzt hat bei mir eine posttraumatische Belastungsstörung festgestellt", erzählt Hinojos, "die vielen Toten, die Angst, die schlaflosen Nächte, du weißt schon." Marrufo weiß, nickt und kaut. Sie sind Veteranen eines Krieges, der noch lange nicht gewonnen ist. Einen zinsgünstigen Kredit wird ihnen deshalb keiner schenken. (Lisa Maria Hagen aus Ciudad Juárez, DER STANDARD, 28.2.2015)