Das ist nicht die Pinie aus unserer Geschichte. Aber sie ist sicher ähnlich schön. Zumal sie uns netterweise geschenkt wurde.

Foto: Birgit Mathon

Teil 1: Dinge sind wie sie sind...

Hier sagt aber niemand Sutivan und Sutivanjani. Alle Bračani sagen: Stivan und Stivanjani. Und im Namen ihrer Insel ersetzen sie das "a" durch ein "o", sie sagen: Broč. Sich selbst nennen sie Bročani. Linguisten wissen sicher, warum das so ist. Ich und die Bročani und Stivanjani, die ich kenne, wissen es nicht. Das ist aber ohnehin weniger wichtig. Das lernt man, wenn man so lange und so oft migriert wie ich. Weil man dann weiß, dass nur wichtig ist, dass es so ist und das es am wichtigsten ist, es zu akzeptieren, wie es ist. Das, so glaube ich, ist der erste Schritt, der mich zum Stivanjanin ehrenhalber macht. Doch der Weg dorthin ist lang. Die einzige Abkürzung ist das Einheiraten, aber das ist eine Kategorie für sich. Man ist dann "stivanski zet" oder "stivanska nevista". Das erstere bedeutet Schwiegersohn von Sutivan und das Zweite Schwiegertochter (auch Braut) von Sutivan und ist damit eindeutig dem Stivanjanin ehrenhalber übergeordnet. Mir ist die Ehren-Stivanjanschaft ausreichend Ehre und genug Nähe zu den Stivanjani.

Ich sage lieber "Dazukömmling" als "Migrant". Weil "Migrant" nach Heuschreckenwanderung klingt. Ich bin Dazukömmling in Wien, später in Italien, später auf Neuseeland. Ich komme sogar kurzzeitig im Pazifik und der Karibik dazu. Doch das erste Mal bin ich ein nach Stivan dazugekommenes Kind aus Beograd, der Hauptstadt eines Landes, das es nicht mehr gibt und dessen Teil damals Dalmatien und auch ganz Brač ist. Und alles bis zu meiner Ehrung und darüber hinaus bis heute, beginnt mit einem zufälligen Blick über das Meer und endet mit dem Haus unter der großen Pinie.

Maria, Johannes, Rochus und ein Zelt

Mein Großvater, der damals noch raucht, steht im Sommer 1960 im Hafen von Split, zündet eine Zigarette an und blickt, den ersten Zug geniessend in die Ferne. Weil es ein klarer Tag nach einer Bura ist, sieht er auf der Split gegenüberliegenden Küste von Brač, das Dorf Sutivan. Vom Leuchtfeuer auf der großen Mole im Hafen von Sutivan bis zum Kai von Split sind es fast auf den Meter genau 14 Kilometer. Deswegen kann mein Großvater, der damals noch keine Brille braucht, die zwei Kirchtürme von Sutivan sehen. Einer ist der Turm der Pfarrkirche der Himmelfahrt der seligen Jungfrau Maria (Uznesenja Blažene Djevice Marije), der andere ist der Turm des Hl. Rochus, auf dem Friedhofshügel über Sutivan. Der heilige Rochus heißt hier Sveti Rok und er ist Sutivans Erlöser von der Pest. Die dritte und älteste Kirche von Sutivan, die Kapelle des Hl. Johannes, dem Namenspatron von Sutivan, der hier Sveti Ivan heißt, sieht Opa nicht. Sie ist klein, halb verfallen und liegt hinter Pinien versteckt nahe dem Strand der Bunta, deren Name aus ihrem lateinischen Toponym "punta nigra" entsteht.

Doch all das weiß mein Großvater (und ich) erst viel später. Er sieht auch noch die Häuser aus weißem Stein mit roten Dächern die, mal größer, mal kleiner, um die beiden Kirchen und am Hügel des Hl. Rochus gebaut sind. Und er sieht, wie heimelig und nestartig dieser Anblick ist. In diesem Moment, an einem klaren Julitag vor über 50 Jahren, beschließt Großvater mit seiner Familie, einen Ausflug in das Dorf mit den zwei Kirchtürmen zu unternehmen. Das ist der Anfang, wie ihn mein Großvater immer erzählt. Am Ende steht noch immer ein Haus unter der Pinie, unter der zuerst ein Zelt steht vor dem der Beton für das Haus gemischt wird.

Der permanente Ausflug

An diesem Nachmittag fährt man mit dem Schiff nach Sutivan, gerät dort an Petar Kirigin, der ein Zimmer vermietet und bleibt einige Tage. Schon im nächsten Sommer bringt man ein großes, altes Militärzelt mit, weil mehr Familie mitkommt und Petar Kirigin nur dieses eine Zimmer vermieten kann, ohne auf dem Strand schlafen zu müssen.

Im darauf folgenden Sommer soll Petar Kirigin die Schwester meines Großvaters heiraten, die im Jahr davor mit im Zelt ist. Sie heißt Kaja und hat nur einen Arm. Den anderen reißt ihr eine Erntemaschine aus, als sie noch eine junge Frau ist. Der Unterarm ist weg, aber die Ärzte retten den Oberarm und machen einen Stumpf daraus. Den schon alternden Kirigin stört das nicht, er mag Kaja und ist außerdem schon zu lange Witwer als gesund sein kann, wie er selbst sagt. Aber als der Sommer endet, das Zelt eingerollt und beim Kirigin eingelagert wird, will Kaja doch nicht. Sie stirbt einige Jahre später, ohne jemals wieder nach Sutivan zu kommen. Petar Kirigin heiratet eine Witwe aus Bobovišća, sie lebt länger als Kaja, wahrscheinlich auch glücklicher. Und weil er durch die Ablehnung nicht beleidigt ist, bleibt er meinem Großvater ein Freund. Das ist wichtig, weil man inzwischen beschließt, das Angebot eines Freundes von Petar Kirigin anzunehmen und weil der Kirigin bürgt, dass am Angebot kein Haken ist.

Offiziersehre

Kirigins Freund ist ein Stivanjanin und wie mein Großvater Offizier der Volksarmee, Mitglied in der Kommunistischen Partei Jugoslawiens aber zu jung, um im Zweiten Weltkrieg Titos Partisan zu sein, wie mein Großvater. Und ohne Kirigins Bürgschaft ist das für meinen Großvater keine ausreichende Vertrauensbasis. Er stammt selbst aus einem kleinen Dorf in Slawonien und vergißt auch in der Stadt nicht, das Dazukömmlinge mit Allem rechnen müssen. Besonders wenn es um Landkauf geht und besonders dann, wenn das Angebot so günstige Umstände bietet.

Die Umstände haben mit einem neuen Gesetz zu tun, das bei zu viel Landbesitz zur Streichung der Kinderbeihilfe führt. Dieser Offizier hat zu viel Land und zu viele Kinder. Das Land bearbeitet er nicht, muß aber dafür Steuer zahlen und die Kinder kosten ihn schon, so sagt er, wenn sie bloß ein- und ausatmen. Also entscheidet er sich für die Kinderbeihilfe. Deswegen beschließt der Offizier etwas Land zu verkaufen, damit ihm die Kinderbeihilfe erhalten bleibt. Und weil alles möglichst schnell gehen soll, gewährt er meinem Großvater sogar Ratenzahlung über mehrere Jahre. Mit Vertrag und Notar, in Grundbuch und Kataster, nach Gesetz und Recht! Und weil Petar Kirigin nickt, als mein Großvater ihn fragend ansieht, erwirbt meine Familie einen Streifen Land, knapp unter 1000 Quadratmeter groß, ein wenig außerhalb von Sutivan, in der flachen Bucht von Majakovac.

Schritt für Schritt

An dieser Stelle ist der erste Schritt zum Stivanjanin ehrenhalber geschritten. Für den zweiten wird mein Vater wichtig, der eine etwas tragische Figur ist, oft tragikomisch. Das liegt daran, das mein Vater seit seiner Kindheit schwer Herzkrank ist, aber gleichzeitig, wie man hier sagt, eine kurze Lunte hat. Besonders wenn die Tücke des Objekts ihn zu lange (also ganz kurz nur) foppt. Dann passiert das, was man in Comics sieht, wenn eine Figur auszuckt. Mein Vater attackiert in seinem Zorn das widerspenstige Objekt, bis es kaputt ist oder bis er blutet. Meistens geschieht aber beides gleichzeitig. Dabei vollführt er Bewegungen die nur Comicfiguren möglich sind und erzeugt Laute, die mir nur aus Sprechblasen bekannt sind. Meistens ist die letzte Lautäußerung ein konventionelles langes "A", gefolgt von einem Fluch in dem es um Sex unter nahen Verwandten geht.

Beim Bau des Hauses trifft dieser Fluch mit dem mein Papa beladen ist, die Werkzeuge und verursacht Verzögerungen. Davor schon ist mein Vater kein Lieblingsschwiegersohn. Mein Großvater akzeptiert ihn, weich vom Älterwerden und gutmütig wie immer. Meine Oma duldet ihn, bißweilen deutlich spürbar. Meine Tante, die Schwester meiner Mutter, hasst ihn ganz offiziell. Meine Mutter liebt ihn als einzige ehrlich und sagt, den Zorn habe mein Vater von seinem Großvater Fridolin, dem volksdeutschen Kroaten aus Slawonien, der Hufschmied ist, bei Wutanfällen Pferde mit bloßen Händen verprügelt und dabei auf deutsch Flucht. Das Ungeschick mit den Dingen, so sagt meine Muter weiter, habe mein Vater von seinem Vater Nikodije, dem Serben aus Pirot, der als Maurer so ungeschickt ist, dass ihm der Materiallift auf einer Baustelle in Belgrad den Kopf zerquetscht.

Und nun ist mein Vater wichtig, weil ein Grundstück da ist, aber man Papas Geld braucht, um mit dem Hausbau zu beginnen. Papa hat grad Geld, weil seine Mutter das Haus in der Varovnička Straße in Beograd kurz zuvor verkauft, um in ein kleineres in Zemun zu ziehen. Mein Vater erhält einen Anteil am Verkaufserlös, also beschließt man das Haus in Sutivan gemeinsam zu Bauen und die Unbill mit dem Kaputtmachen von Sachen zu ignorieren.

Im Sommer 1965 spannen zwei Generationen unserer Familie gemeinsam ein großes, russisches Militärzelt aus dem zweiten Weltkrieg unter der großen, zweiarmigen Pinie, die fast den ganzen Tag Schatten macht. Die dritte Generation, also ich, sieht dabei zu. Weil ich erst knapp zwei Jahre alt bin, sind die Erinnerungen wie eine Diashow abgespeichert. Ich kann mich an das Militärzelt mehr deswegen erinnern, weil es noch gut 30 Jahre später, auf dem Dachboden ist und ich es 1992, während des Kroatienkrieges, als Sonnensegel missbrauche. In meinem Kopf sind die Dias von Stockbetten und Luftmatrazen. Und dem kühlen Morgen, als eine Schlange unter den Zeltboden kriecht, weil es da warm ist. Das ist eine Serie von Dias mit den Motiven "aufgerissener Mund" und "Familie, die aus dem Zelt stürmt".

Ende Teil 1 (Bogumil Balkansky, 27.2.2015, daStandard.at)