"Zweischneidig": Peer Steinbrück.

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STANDARD: Wie beurteilen Sie die Chancen auf stabilen Frieden in der Ukraine nach dem Minsker Abkommen, das ja im Wesentlichen von Bundeskanzlerin Angela Merkel zustande gebracht wurde?

Steinbrück: Von meinem Wunschdenken her natürlich positiv. Aber wir beide sind nicht naiv und wissen, dass es Möglichkeiten für eine weitere Eskalation gibt und sich die Destabilisierungstendenzen, die von der Russischen Föderation und maßgeblich von Präsident Putin ausgehen, fortsetzen.

STANDARD: Wenn es nicht klappt, halten Sie eine weitere Verschärfung der Sanktionen für sinnvoll?

Steinbrück: In dem Augenblick, wo die Separatisten mit deutlicher Unterstützung Russlands militärisch weiter eskalieren und ausholen würden - Stichwort Mariupol (Hafenstadt an der Grenze zur "Volksrepublik Donezk", Red.) -, haben wir es mit einer völlig neuen Lage zu tun, und Minsk ist Vergangenheit. Der Westen wird sich dann in der Tat zu überlegen haben, ob er die Sanktionen weiter hochschraubt. Ich glaube, dass der Westen dann reagieren muss.

STANDARD: Welche Auswirkungen hätten verschärfte Sanktionen?

Steinbrück: Die Frage ist vor allem: Was heißt das für die wirtschaftliche Lage Russlands, das in meinen Augen ohnehin bereits in eine Finanzkrise geht? Führt das zu weiteren, auch irrationalen Reaktionen in Russland? Insofern ist das ein zweischneidiges Schwert.

STANDARD: Ist die Lieferung von Defensivwaffen an die Regierung in Kiew eine europäische Option?

Steinbrück: Nein, ich halte das für gefährlich. Denn mit der Lieferung egal welcher Waffen könnte sehr schnell ein Szenario drohen, in dem die Ukraine zur Region eines Stellvertreterkrieges wird. Und in meinen Augen wird Putin eine militärische Niederlage der Separatisten nie zulassen, erst recht nicht, wenn der Westen die ukrainische Armee aufrüstet. Dann wäre sehr schnell die nächste Eskalationsebene erreicht.

STANDARD: Gibt es dann überhaupt noch andere Möglichkeiten? Oder muss sich der Westen auf einen langen Konflikt mit Russland einstellen und auf die Zeit nach Putin hoffen?

Steinbrück: Der Westen wird jedenfalls sehr abgewogen, vernünftig und verlässlich reagieren müssen. Er muss vor allem geschlossen sein und darf sich nicht auseinanderdividieren lassen. Das ist ja die Hoffnung von Putin, dass der Westen sich irgendwann einmal aufteilt in unterschiedliche Lager. Umgekehrt wird man nicht darum herumkommen, Putin auch Brücken zu bauen. Keine Seite, die Ukraine am wenigsten, kann ein Interesse an einer weiteren Destabilisierung und einem ökonomischen Niedergang des Landes haben. Meine Wahrnehmung ist, dass Putin sich mit der Annexion der Krim nicht nur ein völkerrechtliches, sondern vor allem ein ökonomisches Problem aufgehalst hat. Insofern verstehe ich nicht, warum in unmittelbarer Nachbarschaft Russlands und an der Peripherie der Europäischen Union nicht alle ein Interesse daran haben, dass es dort nicht zu einem "failing state" (scheiternden Staat) kommt.

STANDARD: Wie beurteilen Sie Angela Merkels Krisenmanagement? Ist Deutschland in der gegenwärtigen allgemeinen Krisensituation zur europäischen Führungsrolle sozusagen verdammt?

Steinbrück: Das Krisenmanagement der Bundesregierung in Gestalt von Frau Merkel und Herrn Steinmeier (Außenminister, Red.) beurteile ich uneingeschränkt positiv. Sie haben nach wie vor auch Zugang in Moskau, was auch von den Amerikanern inzwischen positiv gesehen wird. Diese Zugänge muss man nutzen. Wir Deutschen reden ungern von Führungsrolle, allein schon wegen mancher Silben, die in dem Wort stecken. Aber dass es eine besondere Erwartung an eine europäische und internationale deutsche Rolle gibt, das ist uns sehr bewusst. Und die sollten wir auch wahrnehmen. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 4.3.2015)