Zehn Jahre sind vergangen, viele Leerstellen sind aber geblieben: Der Historiker Oliver Rathkolb hat eine aktualisierte Fassung seines Buches Die paradoxe Republik vorgelegt. Er spannt den Bogen vom Jahr 1945 bis in die Gegenwart. Neben einzelnen Wahlergebnissen und dem Ableben Jörg Haiders hat vor allem die Finanzkrise in den vergangenen Jahren Spuren hinterlassen. Rathkolb geht auch auf die Debatten über die Zukunft des Bundesheeres "im Vakuum der Innenpolitik" ein.

Zentrale Befunde aus dem ersten Buch sind gleich geblieben: Rathkolb arbeitet heraus, dass die Verquickung aus einem "latent autoritären Potenzial" und der spät einsetzenden Aufarbeitung der NS-Zeit eine paradoxe Konstellation ergibt, die sich im Selbstbild als "Opfer" manifestiert. Allzu kurz fällt in diesem Zusammenhang das Thema Rückgabe und Raubkunst aus, auch wenn Rathkolb die Industriellenfamilie Lederer und ihre Klimt-Ankäufe erwähnt. Kunst und Kultur haben seiner Einschätzung nach eine wichtige restaurative Funktion in Zeiten des Wiederaufbaus, Österreich sieht sich auch in Abgrenzung zu Deutschland als Kulturgroßmacht.

Auch nach dem EU-Beitritt 1995 wähnen sich die Österreicher auf einer Insel der Seeligen. Rathkolb benützt das Wort Solipsismus: die permanente Ichbezogenheit. Er konstatiert eine "Verschweizerung in den Grundmentalitäten", die in Zeiten von Globalisierung und Europäisierung Anpassungsprobleme erzeuge. In der Außenpolitik sieht Rathkolb ein Schwanken zwischen Minderwertigkeitsgefühl und maßloser Selbstüberschätzung. Die Neutralität nimmt seiner Beobachtung nach noch immer breiten Raum ein, der Wohlfahrtsstaat erzeuge eine Saturiertheit, die zu geringen Reformanstrengungen führt, so sein Befund. Konkrete Projekte fehlen.

Bundeskanzler Werner Faymann beschreibt er als "geschickten Mediennetzwerker", mit ihm verliere die SPÖ aber im Bereich der politischen Ideologie an Glaubwürdigkeit. Ein Befund des Historikers, der seit kurzem federführend an der Konzeption des Hauses der Geschichte arbeitet, klingt endgültig: Das Wahlergebnis 2013 war für ihn "die wohl letzte Chance für die große Koalition". (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, 5.3.2015)