It's the economy, stupid. So haben wir's bei einem der Wahlkämpfe Bill Clintons gelernt. Von der Wirtschaft hängt es ab, ob eine Regierung bei den Leuten beliebt ist oder nicht. Aber stimmt das?

Warum hat dann Präsident Wladimir Putin in seinem Heimatland hervorragende Umfragewerte, obwohl es der russischen Wirtschaft gar nicht gut geht? Die russische Autorin Swetlana Alexijewitsch weiß die Antwort: weil vielen Russen die Macht und die Größe ihrer Heimat wichtiger sind als Wohlstand und Wirtschaftsdaten. Und weil sie im Kreml lieber einen starken Zaren sehen wollen als einen demokratischen Präsidenten.

Swetlana Alexijewitsch hat in ihrem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus einen Querschnitt durch die Ansichten ihrer Landsleute geliefert, mehr als zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Sie sprach mit Generälen und Geschäftsleuten, Studenten und Hausfrauen, Großstadtintellektuellen und Kleinbauern zwischen Moskau und Irkutsk.

Was ist Freiheit, fragte sie ihre Gesprächspartner. Ihr Fazit: "Die Väter: Freiheit ist die Abwesenheit von Angst, geprügelt werden. Aber eine Generation, die nicht geprügelt wurde, wird es bei uns nie geben. Der Russe versteht die Freiheit nicht, er braucht Kosaken und die Peitsche. Die Kinder: Freiheit ist Liebe, viel Geld, dann kann man alles haben. Wenn man leben kann, ohne sich Gedanken über die Freiheit zu machen. Freiheit ist normal."

Aber ganz so normal ist sie auch wieder nicht. Die Hälfte der jungen Menschen zwischen neunzehn und dreißig hält Stalin laut Umfragen für "einen großartigen Politiker". Es gibt einen neuen Stalinkult. "Die sowjetische Hymne ist zurück", schreibt die Autorin, "es gibt wieder einen Komsomol, nur heißt er jetzt 'die Unseren', es gibt eine Partei der Macht, die die Kommunistische Partei kopiert. Der Präsident hat die gleiche Macht wie früher der Generalsekretär. Die absolute Macht. Statt Marxismus-Leninismus haben wir jetzt die Orthodoxie."

Aber was ist mit den Millionen Russen, die Stalin ermorden ließ? Mit den Gulags? Eine Zuckerbäckerin sagt: "Die Menschen erinnern sich kaum noch an das Schlechte, sie sind stolz auf den Sieg (über Hitlerdeutschland) und darauf, dass wir als Erste in den Kosmos geflogen sind. Dass die Läden leer waren - das ist vergessen." Ein Offizier: "Wer hat Russland verkauft? Die Juden. Die Wurzellosen." Ein Kremlfunktionär, der anonym bleiben will: "Die Welt ist unipolar geworden, sie gehört jetzt voll und ganz Amerika. (...) Im Zweiten Weltkrieg haben wir gesiegt, den dritten haben wir verloren."

Das Phänomen Putin wird in Swetlana Alexijewitschs 2013 in Russland erschienenem Buch noch nicht im Detail analysiert. Aber es passt perfekt in die dort gezeichnete Kulisse: ein starker Mann, der das Ende der Sowjetunion als die größte Katastrophe bezeichnet, der die Größe Russlands wiederherstellen will, die Halbinsel Krim wiedererobert und dem Westen und Amerika einen Schrecken eingejagt hat.

"Krim unser" heißen Restaurants in Russland. Und es gibt keinen nennenswerten Widerstand gegen die Tatsache, dass die Sozialausgaben gekürzt werden und das Militärbudget erhöht wird. Die Russen, sagt einer von Swetlana Alexijewitschs Gesprächspartnern, sehnen sich nach einem Zaren mit eiserner Hand. In Wladimir Putin scheinen sie ihn gefunden zu haben. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 5.3.2015)