Stefan Riss (35) ist Allgemeinchirurg und leitet die chirurgische Beckenbodenambulanz am Wiener AKH. Die Ambulanz ist Teil des universitären Kontinenz- und Beckenbodenzentrums Wien unter der Koordination der Abteilung für Gynäkologie.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der Beckenboden ist eine große Muskelplatte, die das Becken auskleidet und viele Organe (Blase, Darm, Gebärmutter) stützt - oder eben nicht: Dann kann es zu Problemen kommen.

Foto: Picturedesk

derStandard.at: Am AKH Wien gibt es seit Kurzem auch eine chirurgische Beckenbodenambulanz. Wie kam es zu dieser Einrichtung?

Stefan Riss: Erkrankungen des Beckenbodens sind extrem häufig. 15 Prozent aller Österreicher leidet zum Beispiel an Verstopfung, die Gründe dafür können im Beckenboden liegen. Das sind in Österreich also eine Million Betroffene. Auch Stuhlinkontinenz ist häufig, wir schätzen, dass fünf Prozent der Bevölkerung, also zirka 400.000 Menschen, an diesem Problem laborieren. Auch Harninkontinenz ist weit verbreitet. Über all diese sehr beeinträchtigenden körperlichen Umstände wird nicht gesprochen. Wir wollen für die Patienten hier eine zentrale Anlaufstelle sein.

derStandard.at: Wo wurden diese Patienten bisher behandelt?

Riss: Das Problem ist: Die meisten wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Denn an sich sind unterschiedliche medizinische Fachgruppen zuständig. Die Ambulanz ist an der Allgemeinen Chirurgie angesiedelt, das Beckenbodenzentrum als übergeordnete Institution verbindet die Allgemeine Chirurgie mit der Gynäkologie, der Urologie, Radiologie und der physikalischen Medizin. Oft kommen ja auch mehrere Erkrankungen zusammen, wir besprechen komplexe Patienten in interdisziplinären Sitzungen. Das hat sich als überaus erfolgreiches Modell bewährt.

derStandard.at: Für alle, die es nicht so genau wissen: Was genau ist eigentlich der Beckenboden?

Riss: Eine große Muskelplatte, die den Boden des Beckens auskleidet und die Organe dort stützt. Blase, Darm, Gebärmutter und Blase sind dort verankert. Mit zunehmendem Alter werden die vielen unterschiedlichen Muskeln in diesem Bereich schwächer, Inkontinenz kann aber auch eine Folge von vorangegangenen Operationen sein. Im angloamerikanischen Raum hat der "pelvic floor" in der Medizin immer schon hohen Stellenwert, das wollen wir auch etablieren.

derStandard.at: Handelt es sich in erster Linie um Frauenleiden?

Riss: Bei Frauen ist der Beckenboden stärker beansprucht, durch Geburten zum Beispiel. Auch Verstopfung ist ein Problem, das eher Frauen haben. Aber es kommen auch männliche Patienten zu uns in die Ambulanz.

derStandard.at: Brechen wir also hier an dieser Stelle Tabus. Mit welchen Beschwerden kommen die Menschen zu ihnen?

Riss: Es gibt zwei große Problembereiche. Zum einen ist es die Stuhlinkontinenz, also der unfreiwillige Verlust von festem und flüssigem Stuhl plus Winde. Dann gibt es eine große Gruppe von Patienten mit Entleerungsstörungen also Verstopfung. Vor allem die Patienten mit Stuhlinkontinenz, die hierherkommen, haben sich von jeglichem Sozialleben zurückgezogen. Keine Theaterbesuche mehr, keine Treffen mit Freunden, keine Spaziergänge – vor lauter Angst, dass etwas passieren könnte. Für solche Menschen sind wir da.

derStandard.at: Und Menschen mit Harninkontinenz?

Riss: Männer werden an der Abteilungen für Urologie, Frauen auf der Gynäkologie betreut, konkret von Urogyäkologen. Sie sind allerdings auch Teil des Beckenbodenzentrums. Oft treten Verstopfung und Inkontinenz aber auch gleichzeitig auf.

derStandard.at: Wie können sie helfen?

Riss: Für einen Teil der Patienten kann eine Operation die Lösung sein, etwa dann, wenn ein Prolaps, das ist ein Vorfall des Darmes, das Problem ist. Es gibt aber auch eine Reihe von funktionellen Störungen. Hier haben wir mit Biofeedbacktherapie Erfolge. Es gibt nämliche eine Reihe von Muskeln im Beckenboden, die jeder bewusst anspannen und entspannen kann. Das kann man lernen. Das Beckenbodenzentrum kooperiert hier mit den Kollegen von der physikalischen Medizin. Biofeedback ist eine Therapieform, die hier Bewusstsein über körperliche Vorgänge schaffen kann.

derStandard.at: Über all das reden die Menschen dann mit Ihnen. Ganz frank und frei?

Riss: Tabus lassen sich nur mit Kompetenz brechen. Viele, die zu uns kommen, haben lange Leidensgeschichten hinter sich. Sitzen stundenlang auf der Toilette, müssen mit den Fingern nachhelfen. Weil wir wissen, wie sich Patienten selbst helfen, sprechen wir das aktiv an. Und plötzlich beginnen sie zu sprechen, merken, dass es ganz offenbar auch andere Menschen mit ähnlichen Problemen gibt. Unser Nachfragen lässt sie die Scheu verlieren. Aus unserer Sicht wiederum ist es ein rein medizinisches Problem. Erkrankungen, die wir in unterschiedliche Kategorien einteilen. Wir müssen fragen, um zu ermitteln. Hat es anatomische Ursachen? Dann können wir operieren. Ist es eine sensorische Störung? Dann kann Biofeedback oder Beckenbodentraining ein Weg sein. Die Nervenstimulation ist ebenfalls eine gute Option. Auch chronische Diarrhoe oder Adipositas können Inkontinenz zur Folge haben. Oft gibt es auch Tricks. Wir können Stuhl medikamentös dicker machen – das hat schon vielen geholfen.

derStandard.at: Lassen sich Beckenbodenmuskeln eigentlich trainieren, vorsorglich quasi?

Riss: Bedingt. Manche Muskeln schon. Andere nicht. Wir operieren jedenfalls nur dann, wenn alle konservativen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.

derStandard.at: Gibt es unheilbare Fälle?

Riss: Manchmal. Aber davor gibt es viele Möglichkeiten, die wir ausprobieren. Und selbst, wenn wir das Problem nicht in den Griff bekommen, haben wir Möglichkeit, die Lebensqualität zu verbessern. Analirrigationen zum Beispiel, also Darmspülungen, die einen Alltag draußen wieder möglich werden lassen, in besonders schweren Fällen kann auch ein künstlicher Darmausgang eine Verbesserung bringen. Das klingt aufs erste brutal, kann aber Vorteile bringen. Aber solche Maßnahmen sind selten. Entscheidend ist, dass wir Patienten darin unterstützen, ihre Körperfunktionen wieder kontrollieren zu können. Das ist dann auch meist der Weg aus der Vereinsamung, in die man sich aus Scham zurückgezogen hat.

derStandard.at: Betreuen Sie Patienten über einen längeren Zeitraum?

Riss: Ja, unbedingt. Wir erfassen alle Fälle statistisch, haben ein Register und können so die Wirksamkeit unserer Therapien feststellen. Evidenz basiert. Die Erkrankungen, die uns beschäftigen, sind im Tabubereich – umso wichtiger ist es, Daten zu ermitteln. (Karin Pollack, derStandard.at, 8.3.2015)