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Die Essenslust hat in der modernen Ernährung mit echtem Hunger oft nur wenig zu tun, sagt der Psychologe Jens Blechert. Er untersucht, wie Emotionen das Essverhalten lenken.

Foto: picturedesk.com / Ernst Weingartner

Salzburg - Essen, wenn man hungrig ist. Aufhören, wenn man satt ist. Was selbstverständlich erscheint, steht in der modernen Ernährung oft nicht mehr im Mittelpunkt. Das Essverhalten hat sich teilweise stark von seiner grundlegenden Funktion der biologischen Appetitregulation entkoppelt, sagt der Psychologe Jens Blechert von der Universität Salzburg: "Mit echtem Hunger hat die Essenslust heute oft nur wenig zu tun." Im Rahmen des Forschungsprojekts NewEat, für das Blechert kürzlich einen renommierten Starting Grant des Europäischen Forschungsrates ERC erhielt, untersucht er die emotionalen Prozesse, die unser Essverhalten beeinflussen.

Faktoren wie "Essen als Selbstbelohnung", "Essen zur Stress- und Emotionsregulation" oder "Essen aus Gelegenheit" spielen laut Blechert immer öfter eine wichtige Rolle. Echter Hunger wird hingegen häufig ignoriert. Solche Entkoppelungen vom biologischen Hunger sind sowohl bei Gesunden wie auch bei Essgestörten zu beobachten - bei Zweiteren häufig in extremer Ausprägung.

Besonders stark sei der Zusammenhang zwischen Essen und Emotion bei der Ess-Brech-Sucht, im Fachjargon Bulimie. Dabei kommt es zu drastischen Essanfällen, die zu schweren psychischen und körperlichen Störungen führen können. Der Faktor "Stress und Essen" trägt vermutlich auch zur aktuellen Übergewichtsepidemie bei, sagt Blechert.

Extremes Diäthalten wiederum kann in einer Magersucht kulminieren, Mediziner sprechen von Anorexia nervosa. Menschen mit dieser Krankheit üben eine extreme Selbstkontrolle über ihr Essverhalten aus und verschließen sich dabei mehr und mehr vor vernünftigen Gewichtszielen und der Meinung anderer, die ihnen sagen: "Du bist doch schon so dünn."

Rund zehn Prozent der Bevölkerung leiden im Laufe ihres Lebens irgendwann an einer Essstörung, die sich oft über Jahre hinzieht. Dabei gibt es verschiedene Formen, und die Übergänge sind oft fließend. Zu den psychischen Störungen werden die Anorexie und die Bulimie gezählt.

Essen und Emotionen

Charakteristisch für die wiederholten Essanfälle der Bulimie sind hastiges, anfallsartiges Verschlingen großer Mengen kalorienreicher Nahrung und der anschließende Versuch durch sofortiges Erbrechen eine Gewichtszunahme zu verhindern.

Obwohl Forscher davon ausgehen, dass bei allen Essstörungen Emotionen eine wichtige Rolle spielen, werden Übergewicht und Fettleibigkeit immer noch als medizinische, nicht als psychische Störung definiert. Das könnte ein Grund sein, warum die Essstörungen bisher nicht gemeinsam erforscht wurden, meint Blechert.

Hinsichtlich der zentralen Rolle von Stress- und Emotionsessen publizierte Blechert kürzlich eine Studie mit dem Titel "Eat your trouble away" im Fachjournal Biological Psychology. Darin untersuchte er, warum manche Menschen geradezu automatisch zum Essen greifen, wenn es ihnen schlechtgeht.

Blechert hat "Frustesser" sowohl in normaler, als auch in schlechter Stimmung getestet. Während die Probanden am Monitor Bilder von Nahrungsmitteln betrachteten, hat er ihre Hirnaktivität per EEG erfasst. Die Kernfrage lautete: Verschiebt sich die Aufmerksamkeit der Frustesser, wenn sie schlecht drauf sind, automatisch hin zum Essen? Sind hochemotionale Esser in gefühlsmäßig belastenden Situationen somit besonders empfänglich für visuelle Essensverlockungen?

Tatsächlich zeigten die EEG-Signale, dass Bilder von Burger, Pizza, Chips oder Schokolade das Verlangen der Frustesser nach Kalorienbomben deutlich ankurbelten, wenn sie in schlechter Stimmung waren. Bei den Nichtfrustessern konnten die Forscher hingegen keine derartigen Reaktionen beobachten. Im Gegenteil: Ihnen verging in belastenden Gefühlslagen eher die Lust am Essen. "Das emotionale Essen ist ein sehr starker Erklärungsmechanismus bei den verschiedenen Essstörungen", sagt Blechert.

Im Projekt NewEat will der Forscher besser verstehen, wie auf neuronaler Ebene negative Stimmungen mit dem Appetit zusammenhängen. "Wir wollen die verhängnisvolle Verbindung zwischen Essen und Emotion auflösen und darauf hinwirken, dass Frustesser etwas anderes tun, als zu essen, um sich in eine bessere Stimmung zu bringen".

Blechert hat für seine Untersuchungen ein Modell entwickelt, das erstmals alle Essstörungen unter einem gemeinsamen Blickwinkel betrachtet: das Balancemodell der Selbstregulation. Dabei geht es um das Gleichgewicht zwischen dem Selbstkontrollsystem eines Menschen, das die Essenszufuhr gedanklich reguliert, und dem Belohnungssystem, das primär auf die Befriedigung von Gelüsten ausgerichtet ist.

Kontrolle und Belohnung

Die Balance kann in beide Richtungen hin gestört sein. Manche Menschen kontrollieren zu stark, etwa bei Anorexie, oder nur zeitweise zu stark - bei der Bulimie. Bei anderen hat Essen so einen hohen Belohnungswert, dass selbst bei normaler Selbstkontrolle Essattacken vorkommen.

Der Forscher und sein Team wollen in Zukunft nicht nur bei Essgestörten, sondern auch bei Gesunden mit Tendenzen zum Frustessen die Balance zwischen Selbstkontrolle und Belohnungswert von Essen erfassen, um so die bestmögliche individuelle Trainingsmethode entwickeln zu können. Eine Voraussetzung dafür besteht darin, das Alltagsessen möglichst genau zu charakterisieren. Zu diesem Zweck wollen die Forscher eine Smartphone-App entwickeln, die mehrmals pro Tag die emotionale Stimmung, den Stress und das Essverhalten misst und die Ergebnisse zurückmeldet.

Je nach Reaktionstyp plant Blechert, spezifische Interventionen zu entwickeln. Bei überstarkem Verlangen sollen zum Beispiel Bilder hochkalorischer Lebensmittel am Smartphone mit Stoppsignalen gekoppelt werden, um so eine Konditionierung zu erzeugen und dem Verlangen entgegenzuwirken. Bei zu starker Selbstkontrolle soll auf eine Flexibilisierung hingewirkt werden. Die individuellen Tipps sollen essgestörten Menschen helfen, ein gesundes Essverhalten zu entwickeln, um nicht von Stress und Emotionen oder den vielen Gelegenheiten zu übermäßigem Essen, gesteuert zu werden. (Maria Mayer, DER STANDARD, 11.3.2015)