Die oft konstatierten Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Ländern relativieren sich schnell, wenn man 14 Jahre lang in den USA gelebt hat. Will man nach einem gefühlten Drittel seines Lebens wieder auf den alten Kontinent zurück, dann ist es fast egal, wo man landet. Hauptsache, die Zielrichtung stimmt: irgendwo in Europa.
Das Leben verläuft nicht immer so wie geplant, und so findet man sich mit Ende vierzig in Schweden wieder: in einem Land, in dem man als junger Mensch nie freiwillig Urlaub gemacht hätte. Vor bald vier Jahren habe ich einen Job an der Universität Uppsala angenommen. Auch mein elfjähriger Sohn, der seit meiner Scheidung bei mir lebt, hätte Österreich den Vorzug gegeben, hätten wir die Wahl gehabt. Aber so ist es nun einmal Schweden geworden.
Keine Privatsphäre
Wie Posterin schwedenbåmbe bereits in diesem Blog berichtet hat, ist einiges in Schweden gewöhnungsbedürftig – ich kann das nur bestätigen. Das Erste, das auffällt, ist, dass vieles eine halbe Ewigkeit dauert, der Sinn für Eile ist nicht Teil der schwedischen Mentalität. Den Schweden fehlt außerdem der Sinn für Privatsphäre. Vieles an Information ist öffentlich zugänglich, inklusive Gehalt, Geburtsdatum, Wohnort, Beziehungsstatus und Autobesitz.
Dieses Prinzip spiegelt sich auch in der Architektur wider: Obwohl kaum ein Land so viel Platz hat wie Schweden, werden Häuser so gebaut, dass sie scheinbar – oder tatsächlich – aneinanderkleben. Der kleine Garten nach hinten ist den Nachbarn oft einsichtig, und kein noch so kleines Fest oder Zusammenkommen bleibt der Nachbarschaft verborgen. Damit ist natürlich jeder auf dem Laufenden, was Änderungen im Familienleben anbelangt, auch mangelt es den Schweden nicht an Neugier für diesbezügliche Details.
Liberales Familienrecht
Sehr positiv ist allerdings, dass Schweden beim Familienrecht eine sehr liberale Gesetzgebung hat. Alles, was man für eine Scheidung benötigt, ist ein Formular, welches man an das Gericht schickt. Nach etwa acht Monaten ist man dann, nach einem kurzen und formlosen zweiten Antrag, geschieden. Dabei wird von beiden Eltern erwartet, dass sie sich selbst finanziell erhalten können. Beide erhalten automatisch gemeinsames Sorgerecht, und es wird größtenteils den Eltern überlassen, wie die Zeit mit den Kindern aufgeteilt wird.
Ein gängiges Modell ist "eine Woche hier, eine Woche da", bei dem die Kinder abwechselnd eine Woche mit dem jeweiligen Elternteil verbringen. Das ist allerdings sehr aufwändig, weil praktisch alle Sachen doppelt vorhanden sein müssen und ein gewisses Maß an Kooperationsbereitschaft von beiden Seiten vorausgesetzt wird. Aus verschiedenen Gründen war dieses Modell in unserem Fall nicht möglich, womit mein Sohn nun ständig bei mir lebt.
Kein Plan B
In der Praxis bedeutet das aber, dass so gut wie keine Redundanz vorhanden ist. Mit anderen Worten: Es gibt keinen Plan B, falls das Kind einmal krank sein sollte oder sonst etwas Unvorhergesehenes passiert. Und wenn man eine Konferenz besuchen will oder Gastvorträge in anderen Städten hält, dann kommt der Sohn mit.
Die Schweden sind hier zwar zu einem guten Teil sehr entgegenkommend, dennoch spürt man, dass einem Vater diese Rolle weniger gerne zugestanden wird als einer Mutter. Das wird manchmal auch durch Unverständnis ausgedrückt, sollte man einmal gezwungen sein, kurzfristig seine Pläne ändern zu müssen. Die Rolle des alleinerziehenden Vaters wird in einer so modernen Gesellschaft wie der schwedischen nicht von allen bereitwillig akzeptiert.
Blick in die Zukunft
Dem steht aber die sehr positive und pragmatische Haltung gegenüber, dass es keine unlösbaren Probleme gibt, auch wenn vieles lange dauert. Insofern raubt uns der Blick in die Zukunft keinen Schlaf, im Gegenteil, wir machen bereits Pläne für die Zeit nach dem Schulabschluss meines Sohnes.
Er will nämlich in Paris studieren und danach ein Heilmittel gegen alle menschlichen Krankheiten finden. Keine schlechte Idee, seine einzigen Bedenken sind, dass er seinen Kühlschrank immer gut aufgefüllt haben muss, falls sein alter Vater einmal überraschend auf Besuch kommt – wo immer der dann leben mag. (Manfred Grabherr, derStandard.at, 19.3.2015)