Juan Carlos Crasborn steht einsam auf der überwucherten Pyramide von El Tintal. Zu seinen Füßen gieren Abermillionen Blätter in der schwülen Tropenhitze nach der Kühle des Abends. Nichts als Wildnis ringsum. Keine Straße. Keine Rauchfahne. Noch nicht einmal der Kondensstreifen eines Flugzeugs kratzt ins Abendrot über dem größten Urwaldgebiet Mittelamerikas.
Der Maultiertreiber lässt den ausgestreckten Arm am Horizont entlangwandern. Sein Zeigefinger hält an winzigen Kuppen inne, die aus dem Flachland ragen. Xulnal. Wakna. Nakbe. Juan Carlos spricht die Namen aus wie eine längst vergessene Zauberformel. Als die ersten Piloten in den 1930er-Jahren über die Region El Petén im Norden Guatemalas flogen, glaubten sie eine Reihe erloschener Vulkane entdeckt zu haben, die auf keiner Karte verzeichnet waren. Doch es sind keine Berge, deren Namen Juan Carlos aneinanderreiht. Es sind die Gipfel mächtiger Mayapyramiden. "Würden wir zur Zeit Jesu hier stehen", sagt er, "dies hier wäre eine einzige Stadt. Die größte Metropole der Maya."
Schweißtreibende Tagesmärsche auf sumpfigen Urwaldpfaden
Weit entfernt am Horizont ragt ein Hügel besonders weit aus der Dschungelebene: La Danta. Mit 72 Metern die höchste aller Pyramiden Mesoamerikas, höher als die Sonnenpyramide von Teotihuacán in Mexiko und massiver als die Cheops-Pyramide von Gizeh in Ägypten. Sie war einst das Zentrum der Maya-Welt. Und sie ist das Ziel unserer Expedition. Nach zwei schweißtreibenden Tagesmärschen auf sumpfigen Urwaldpfaden wollen wir dort oben stehen, auf der Spitze einer verlorenen Hochkultur. Zwei dünnbeinige Maultiere schleppen unseren Proviant.
Warum El Mirador, wie die verlorene Maya-Stadt später genannt wurde, um 150 nach Christus scheinbar urplötzlich verlassen wurde, ist bis heute nicht restlos geklärt. So mysteriös, wie die Stadt einst aus dem Dschungel gestampft wurde, verschwand sie für fast zwei Jahrtausende wieder von der Landkarte. Der Urwald eroberte das Terrain zurück, die Ruinen der Pyramiden wurden zum Revier des Jaguars. 1926 wurde die Maya-Stadt wiederentdeckt, erst Jahrzehnte später von Archäologen kartiert.
Wiege der Maya-Kultur
"In El Mirador entstand die erste staatenähnliche Gesellschaft der westlichen Hemisphäre", sagt Richard Hansen, "und die Hauptstadt der Präklassik." Der amerikanische Archäologe lehrt an den Universitäten von Idaho und Utah. Er kam 1979 mit 26 Jahren als Student hierher. Anhand von Tonscherben entdeckte er, dass die Metropole rund 1.000 Jahre älter sein musste als die Monumentalbauten der Klassik. Um 800 vor Christus entwickelte sich die Stadt zu einem Zentrum Mesoamerikas. "Wir fanden hier nicht weniger als die Wiege der Maya-Kultur", schwärmt Hansen.
Sein Team kartierte mehr als 80 Städte und Siedlungen, die mit der Hauptstadt teils durch imposante Hochstraßen verbunden waren. "Allein El Mirador muss zu Blütezeiten um die 200.000 Einwohner gehabt haben", sagt Hansen, "die gesamte Region mehr als eine Million." In Guatemala erhielt er den Spitznamen "Indiana Jones", nachdem er den Absturz seines Propellerflugzeugs überlebt hatte. Er war mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter aus dem Wrack geflüchtet, bevor es in einem Feuerball aufging.
Frische Jaguarspuren
Bei Sonnenaufgang brechen wir vom Fuß der Pyramide von El Tintal zu unserer zweiten Etappe nach El Mirador auf. Eines der Maultiere schwächelt. Ein Zeckenstich am Hals hat sich zu einer blutigen Wunde entwickelt. Juan Carlos klopft dem Tier aufmunternd auf die Flanke. Wir stapfen durch Sumpfland, vorbei an trüben Tümpeln, über denen kobaltblaue Schmetterlinge taumeln. Eine Horde Klammeraffen erbost sich lautstark über die Eindringlinge in ihr Revier und schüttelt zornig die Äste, sodass es Totholz regnet. Die Maultiere treten in frische Jaguarspuren.
Noch heute ist El Mirador nur auf Dschungelpfaden oder mit dem Hubschrauber zu erreichen. Eine touristische Infrastruktur gibt es nicht, allein die Möglichkeit, im Camp der Archäologen zu zelten. Die Zahl der Abenteurer, die sich von dem nächsten Dorf Carmelita durch den Urwald auf den anstrengenden zweitägigen Fußmarsch machen, lag 2013 bei etwa 3.000 - im Vergeich zu den mehreren Hunderttausenden, die jedes Jahr nach Tikal, Guatemalas bekanntester Maya-Stadt, pilgern, verschwindend wenige.
Raub und Rodung
Seit die Archäologen die ersten Bauten freigelegt hatten, folgten ihnen Grabräuber in die Mirador-Ebene. Sie plünderten Grabkammern, noch ehe die Wissenschafter sie ausfindig machen konnten. "Es ist eine Tragödie", sagt Hansen, "wo ich keine Wachen stationieren kann, wird alles ausgeraubt." Noch mehr machen ihm Holzfäller zu schaffen. "Wenn wir die Brandrodung nicht stoppen", sagt er, "ist der Wald in zehn Jahren verloren."
Der Archäologe kämpft wie ein Jaguar für die Rettung der Ebene. Für sein Engagement gegen Plünderer, Wilderer und die Holzindustrie erhielt er Todesdrohungen. Sie konnten ihn nicht davon abhalten, weiter im Urwald zu forschen. "Wir müssen der Bevölkerung klarmachen, dass dieses Gebiet zu wertvoll ist für den Kahlschlag. Das ist, als würde man den Eiffelturm zur Metallverarbeitung abreißen."
Hansen träumt von einem Park für Ökotourismus, der nur mit einem Schmalspurzug zu erreichen ist. "Eine Straße würde den Weg für die Holzfäller ebnen", sagt er. "Die Regierung muss begreifen, dass sie mit dem Tourismus längerfristig mehr Geld machen kann als mit Holz und Raubkunst. Tikal nimmt jedes Jahr mehr als 160 Millionen Euro mit den Touristen ein. Ich bin überzeugt, El Mirador könnte das übertreffen." Durch Fundraising hat Hansen Millionen für den Erhalt der Stätte zusammengetragen. Zu seinen Unterstützern zählt auch Mel Gibson, den er für sein Maya-Epos Apocalypto beriet.
Der Urwald hat den Kampf gewonnen
Am Abend stehen wir auf der Spitze von La Danta. Kaum vorstellbar, welche Aussicht sich Priestern und Königen bot, die vor 2000 Jahren genau hier standen. Vor dem inneren Auge entfaltet sich die alte Pracht: Dutzende dunkelroter Pyramiden wuchern aus dem Urwald. Von wackeligen Holzgerüsten aus schleifen Künstler meterhohe Masken aus den Kalksteinfassaden. Auf dem Marktplatz laden Händler ihre Waren ab: grün schillernde Jade und prächtige Ozelotfelle aus den Wäldern von Calakmul. Auf Hochstraßen schleppen Arbeiter Felsen mit schierer Manneskraft. Lasttiere und das Rad waren den Maya unbekannt.
Den letzten Kampf zwischen Mensch und Natur gewann der Urwald. Er begrub die gewaltigen Zeugnisse von Maßlosigkeit unter den mächtigen Wurzeln der Sapotilla- und Brotnussbäume. "Die Bewohner El Miradors legten die Sümpfe trocken und fällten den Wald für die Anlage ihrer Terrassenfelder und den Bau immer aufwändigerer Bauten", sagt Hansen. "Verschwendungssucht war der Grund für den Niedergang der Maya-Kultur", sagt Hansen. "Wir tun heute nichts anderes. Und wir werden einen schrecklichen Preis dafür bezahlen." (Winfried Schumacher, Rondo, DER STANDARD, 11.3.2015)
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