Michael Landau, Präsident der Caritas Österreich, beäugt die bevorstehende Steuerreform mit Skepsis. Wojciech Czaja traf ihn in der Gruft, wo Obdachlose für ein paar Stunden so etwas wie Wohnen erleben.
"Aktuell gibt es in Wien einige hundert Menschen, die akut obdachlos sind. Hier im Tageszentrum der Gruft wollen wir ihnen zumindest für einige Stunden eine Art Zuhause bieten. Hier bekommen sie ein Dach über dem Kopf, eine warme Mahlzeit und frische Kleidung. Ich hoffe, es klingt nicht vermessen, wenn ich sage, dass unsere Besucherinnen und Besucher hier zumindest für einige Stunden so etwas wie Wohnen erleben können.
Das Haus wurde im Herbst 2013 eröffnet, und ich bin sehr froh darüber, denn es bietet unseren Klienten die Möglichkeit, den Tag in schönem Ambiente mit Tageslicht zu verbringen. Es ist nämlich ein Unterschied, ob jemand den Tag mit künstlicher Beleuchtung verbringt, wie das in der alten Gruft der Fall war, die wir nun ausschließlich als Schlafquartier nutzen, oder mit Blick auf Wiese und Bäume.
Nachdenklich stimmt mich, dass die Zahl der Obdachlosen stetig steigt. Im Vorjahr haben wir 110.000 warme Mahlzeiten ausgeteilt - um 50 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren. Und trotzdem ist die akute sichtbare Wohnungslosigkeit, auf die wir hier in der Gruft zu reagieren versuchen, nur die Spitze des Eisbergs. In der Regel denkt man an ältere Männer mit rauschenden Bärten, doch tatsächlich handelt es sich oft um junge Leute zwischen 18 und 30 Jahren, die als Obdachlose gar nicht auffallen - und auch nicht auffallen wollen.
Armut ist meist unsichtbar. Circa 230.000 Menschen in Österreich leben in Wohnungen, die sie nicht warm halten können, weil sie kein Geld zum Heizen haben. Das ist eine sehr basale Form von Not. Bedenkt man, dass die Wohnung so etwas wie die zweite, wie die dritte Haut des Menschen ist, so kann ich nur sagen, dass diese Haut für zunehmend mehr Leute immer dünner und dünner wird.
Ich selbst habe das Glück, eine recht dicke und robuste Haut genießen zu dürfen. Ich habe früher lange Jahre in einem unserer Caritas-Seniorenhäuser in Hütteldorf gewohnt, wo ich nach wie vor Seelsorger bin. Vor einiger Zeit bin ich in ein kirchliches Haus hinterm Stephansdom gezogen. Ich genieße das Grätzel sehr. An manchen Tagen kommt mir die Innere Stadt, vor allem ganz früh, wenn noch keine Touristen unterwegs sind, wie ein kleines Dorf vor. Jeder kennt jeden, man sagt einander Hallo und tauscht ein paar freundliche Worte aus. Das ist für mich Heimat.
Meine Wohnung, mit weißen Billy-Regalen für die Bücher und einer alten Kredenz, die ich von meinen Eltern geerbt habe, ist ein Rückzugsort, wo ich die Tür zumachen und zur Ruhe kommen kann. Wenn ich es schaffe, koche ich mir einen Teller Spaghetti, setze mich hin und lege eine CD ein. Aber ich muss gestehen, dass ich für meinen Geschmack allzu selten in diesen Genuss komme. Ich bin viel unterwegs, komme spät heim, wohne oft in Gästezimmern und lebe aus dem Koffer. Je älter ich werde, desto mehr weiß ich mein eigenes Bett zu schätzen.
Die Steuerreform, vor der wir jetzt stehen, wird daran zu messen sein, ob sie den sozial benachteiligten Menschen in unserem Land mehr Luft zum Atmen gibt und ob sie den Menschen am Rande der Gesellschaft eine Lebensperspektive eröffnen wird oder nicht. Das ist der zentrale Lackmustest. Ich bin geborener Optimist, so glaube ich, dass das gut über die Bühne gehen wird. Aber ich bin auch Realist, und daher werden wir nicht aufhören, die Verantwortlichen in ihre Verantwortung zu nehmen." (DER STANDARD, 14.3.2015)