Bild nicht mehr verfügbar.

Die triste Banlieue-Realität soll bald einer besseren Zukunft weichen.

Foto: AP / Elaine Ganley

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Anschläge haben die französische Regierung von Präsident François Hollande und seinem Premier Manuel Valls aufgerüttelt. Sie wollen nun Wandel - und die Mittelklasse - in die Einwandererghettos an den Rändern der großen Städte bringen.

Foto: AP / Etienne Laurent

Vielleicht ist es ein Drogenhändler, der den auswärtigen Besucher verscheuchen will. Vielleicht erlaubt er sich auch nur einen Spaß. Wie ein Stier in der Arena rast sein weißer Peugeot auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum auf den Fremdling zu. Haarscharf fährt er an ihm vorbei, durchs offene Wagenfenster laut lachend.

Willkommen in der Wohnblocksiedlung Le Chêne Pointu ("Die spitze Eiche" ). Hier im Zentrum von Clichy-sous-Bois, das gar kein richtiges Stadtzentrum hat, ragen statt Bäumen 15-stöckige Wohnblocks in den Himmel. Im Einkaufszentrum ist die Armut mit Händen zu greifen. Jeans kosten 2,99 Euro, Frauenschuhe fünf Euro. Der Kiosk mit dem gelben Signet "Presse" verkauft seit Jahresbeginn keine Presse mehr, sondern Pferdewetten. 40 Prozent der Bewohner sind ohne Job, 70 Prozent leben unter der Armutsschwelle.

Aber das soll nun anders werden. Le Chêne Pointu wurde hier in den 1960er-Jahren für die aus Nordafrika zuströmenden Arbeiter gebaut und gilt heute als eines der "heißesten" von 750 Problemvierteln Frankreichs. Doch jetzt wird von Grund auf renoviert, alte Blöcke werden abgerissen und neu gebaut.

Leben mit dem Stigma

Premier Manuel Valls hat jüngst sein mit einer Milliarde Euro dotiertes Programm für "soziale Durchmischung" vorgestellt. Die Anschläge auf "Charlie Hebdo" und den jüdischen Supermarkt im Jänner haben Frankreich aufgerüttelt. Valls will reichere Gemeinden zwingen, 25 Prozent Sozialwohnungen zu errichten; in ärmeren Orten sollen sie nicht über 50 Prozent der Wohnfläche einnehmen.

Clichy-sous-Bois hat nicht auf diese Ankündigung gewartet. Die Gemeinde lebt mit dem Stigma, die landesweiten Vorstadtkrawalle von 2005 ausgelöst zu haben.

Der jüngst verstorbene sozialistische Ortsbürgermeister Claude Dilain kämpfte lange für eine "urbanistische Revolution". Nach der Banlieue-Revolte drang sein Aufruf bis in den 15 Kilometer nahen und doch so fernen Élysée-Palast. Heute verfügt Clichy über ein Arbeitslosenamt und eine Polizeiwache. "Jedes bessere französische Nest hat ein Kommissariat, Clichy und der Nachbarort Montfermeil, wo 50.000 Menschen wohnen, mussten aber bis 2010 ohne auskommen", sagt Lamy Monkachi, Sprecherin der Stadtbehörden. "Die meisten Einwohner sind heute sehr froh über die Patrouillen."

Aldi als sozialer Treffpunkt

Vor allem aber setzte Dilain durch, dass die ältesten Wohnblöcke abgerissen werden. In der Siedlung namens Forestière (Försterei) ist ein Großteil der Türme bereits gefallen. Nur wenige stehen noch, ihre Sprengung ist geplant. Sie wird auch das letzte Graffito "Forest Favelass" beseitigen, aus der Zeit, als der Aldi-Markt noch der einzige soziale Treffpunkt der Siedlung war.

Südlich davon bringen Arbeiter den letzten Schliff an vierstöckige Häuser, die sogar ein paar Grünflächen haben. Hunderte Familien werden hierhin ziehen. Der Wohnraum ist nicht größer, aber, wie eine Anwohnerin sagt: "Man fühlt sich nicht mehr wie ein Huhn in Käfighaltung."

Mehdi Bigaderne vom Migrantenrechte-Verein "AC le feu" (frei übersetzt: "Genug vom Feuer") begrüßt das Bauprogramm, selbst wenn die Bewohner ohne Mitspracherecht umgesiedelt worden sind. Noch wichtiger findet er aber, dass Clichy Anschluss an die Außenwelt erhält. Derzeit gibt es weder eine Schnellstraße noch eine Zuglinie. Wer in Paris arbeitet, nimmt morgens um 4.57 Uhr den vollen Bus in den Nachbarort und braucht dann gut zwei Stunden. Nun haben die Bauarbeiten für eine Tramlinie begonnen.

An bessere Durchmischung glaubt er kaum. "Valls will die Mittelklasse nach Clichy bringen. Wenn auch nur eine Pariser Familie hierherkommt, würde mich das sehr wundern." Wie auch das Gegenteil: Laut Studien verlassen 22 Prozent der Kinder ihre Banlieue nicht einmal in den Ferien. (Stefan Brändle aus Clichy-sous-Bois, DER STANDARD, 14.3.2015)