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Ein Park in Seoul, der zur Erholung und zum Entspannen dient.

Foto: REUTERS/Kim Hong-Ji

Lee Cheong Hee hat es sich auf der Steinbank bequem gemacht. Das Paar Turnschuhe sorgfältig zur Seite gelegt, reibt er sich mit beiden Händen die steifgefrorenen Füße warm. Über eine Stunde war der 78-Jährige an diesem Vormittag bereits spazieren, genau wie gestern, vorgestern und all die anderen Tage auch. Seit über 15 Jahren fährt er jeden Morgen von seinem Seouler Vorort bis ins Stadtzentrum, um im Jongmyo-Park seinen Lebensabend bei Brettspielen und politischen Debatten zu vertreiben. Viele der über tausend Parkbesucher sind in ihrem achten Lebensjahrzehnt, einige auch im neunten. Wer hierherkommt, hat nirgendwo anders hinzugehen.

An diesem Samstag schickt der Frühling erstmals seine wärmenden Vorboten an die Koreanische Halbinsel. Die Sonnenstrahlen zaubern mit den Kieferbäumen ein kunstvolles Mosaik aus Licht und Schatten auf den Parkboden, die Spatzen balzen um die Brotkrümel der Pensionisten, und das Klackern der abertausenden Go-Steine erklingt als kunstfertiges Kastagnetten-Spiel. Doch die Idylle täuscht. Auf der Fläche eines Fußballplatzes lassen sich im Jongmyo-Park alle erdenklichen Schattierungen menschlicher Enttäuschung finden, mit denen das Leben aufwarten kann.

Enttäuschung

"Wir haben so viel gearbeitet für den Staat, aber die Jugend behandelt uns wie Dreck", sagt Lee und schlürft aus seinem Kaffeebecher. Seine wässrigen Knopfaugen haben einst mit angesehen, wie aus den zerbombten Straßenzügen seiner Jugendzeit nach und nach riesige Bürotürme heranwuchsen, die den Jongmyo-Park nun umzingeln. Seine Heimat entwickel- te sich von einem der ärmsten Länder der Welt zur fünfzehntgrößten Volkswirtschaft. Und doch hat sie für Leute wie Lee gerade mal eine Monatsrente von 120 Euro übrig.

Südkorea ist die am schnellsten alternde Gesellschaft der Welt. Die Geburtenraten sind so niedrig, dass das Volk rein statistisch bis 2750 aussterben würde. Eine absurde Vorstellung, die es dennoch auf die Titelseiten der großen Zeitungen gebracht hat.

Alt sein, das geht in Südkorea allzu oft mit Armut einher. Rund die Hälfte aller Senioren leben unter dem Existenzminimum, so viele wie in keinem anderen OECD-Staat. Sie haben das höchste Risiko, an Depressionen zu erkranken. Innerhalb einer Bevölkerung, die seit Jahren die Selbstmordstatistiken anführt, nehmen sie sich am häufigsten das Leben.

Müllsammler im Pensionsalter

Auch wenn das offizielle Pensionsalter 61 Jahre beträgt, arbeiten Südkoreaner im Schnitt rund zehn Jahre länger. Für viele Senioren bleibt der Ruhestand nichts weiter als eine Wunschvorstellung. Allein anderthalb Millionen Alte säubern als Müllsammler die Straßen der Wohnsiedlungen, andere verteilen Flyer auf den Ausgehmeilen oder bewachen die Apartmentwohnungen der Wirtschaftselite. Die meisten Straßenimbisse werden von ihnen bewirtschaftet, Minimärkte und Pizza-Lieferdienste auch. Abertausende Kleinstunternehmen bestehen aus alten Ehepaaren, die durch eine frühzeitige Kündigung in die Selbstständigkeit gedrängt wurden. Statistisch gesehen geht die Hälfte solcher Familienbetriebe binnen einem Jahrzehnt pleite.

Das Wunder vom Han-Fluss zählt zum rasantesten Wirtschaftsaufstieg des 20. Jahrhunderts. Während sich mit dem Aufstieg des Kapitalismus traditionelle Familienbindungen lösten, wurde kein Sozialsystem erarbeitet, das diese Entwicklung austarieren könnte. Park Geun-hye hat sich den Aufbau eines stabilen Pensionssystems für ihre erste Legislaturperiode vorgenommen. Noch ist sie der Öffentlichkeit ihr Versprechen schuldig geblieben.

Nur 1,7 Prozent seines Bruttosozialprodukts bringt Südkorea für die Unterstützung seiner Senioren auf. Gleichzeitig muss erstmals die Hälfte von ihnen ohne finanzielle Unterstützung ihrer erwachsenen Kindern zurechtkommen. Wer nicht als Professor oder im öffentlichen Dienst gearbeitet hat, bekommt bislang nur eine symbolische Monatspension.

Knapp 100 Euro sind es bei Herrn Ho, 88 Jahre, das stolze Gesicht unter der navyfarbenen Truckerkappe versteckt. "Was kann ich schon machen? Wir müssen halt sparen, meine Frau und ich", sagt er lakonisch, seinen Oberkörper auf den Gehstock stützend. Und die Kinder? Ach was, winkt Herr Ho ab, die hätten selber genug Probleme, ihre Familie durchzubringen. Damit er niemandem zur Last falle, habe er sein Leben lang als Tischler gearbeitet. Die Studiengebühren der Kinder mussten schließlich bezahlt werden, später brauchten sie zum Heiraten eine Eigentumswohnung. Erst mit 83 konnte er sich den Ruhestand leisten.

Opfer bringen, Opfer werden

"Viele Alte sind Opfer einer Gesellschaft geworden, zu der sie selber beigetragen haben", meint der 34-jährige Se-Woong Koo, Chefredakteur der Nachrichtenseite Korea Exposé: "Sie haben unendlich hart gearbeitet, denn sie hatten ja auch ein tatsächliches Ziel vor Augen: das erste Auto, die eigene Apartmentwohnung. Die Jugend ist nicht mehr bereit, sich aufzuopfern." An den Traum vom endlosen Wachstum glaube längst niemand mehr.

Se-Woong Koo ist das beste Beispiel für seine These. Als Mittelschüler nahm ihn seine Mutter mit nach Vancouver, nicht zuletzt um ihren Sohn vor dem ultra-kompetitiven Bildungssystem ihrer Heimat zu bewahren, dessen immenser Leistungsdruck einst die körperliche Gesundheit des Bruders ruiniert hat. Doch trotz seines Doktorstudiums in Stanford hat sich Se-Woong Koo gegen eine Karriere bei Samsung oder Hyundai entschieden. Mit einem Halbtagsjob als Englischlehrer in Seoul tilgt er seine Miete, den Rest der Zeit verbringt er unentgeltlich mit seinem englischsprachigen Nachrichtendienst. "Wenn unsere Generation hart arbeitet, dann nur mehr aus persönlicher Erfüllung."

Es ist Abend geworden in Jongmyo-Park. Nur vereinzelt verirren sich auch ein paar Junge hierher. Meist sind es Touristen, denn an den nördlichen Teil der Parkanlage grenzt einer der ältesten noch erhaltenen Konfuzius-Schreine des Landes an. "Ehre deine Eltern" hat der chinesische Gelehrte zur moralischen Maxime erhoben.

Se-Woong Koo sagt: "Es wird keinen Weg zurück geben. Respekt gegenüber den Eltern kann man nicht erzwingen." (Fabian Kretschmer aus Seoul, DER STANDARD)