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Karl Marx lieferte die theoretischen Grundlagen auch für die Kommunistische Partei Österreichs, die 1918 in Wien von radikalen Studentinnen, von der Sozialdemokratie enttäuschten Linksintellektuellen und einigen Arbeitern gegründet worden ist.
Es war einmal ein Land, das war de facto pleite. Internationale Vertragspartner hatten ihm kaum erfüllbare Bedingungen auferlegt. Es suchte händeringend nach Kreditgebern - und musste für die Gewährung des Darlehens harte Sparmaßnahmen in der Verwaltung setzen. Die Arbeitslosigkeit war in bis dahin ungekannte Höhen gestiegen, die Bevölkerung gespalten, der politische Spielraum kaum vorhanden - und natürlich gab es mächtige Politiker in den Regionen, die sich dem Sparkurs widersetzten.
Kommt bekannt vor? Nein, hier ist nicht von Griechenland 2015 die Rede, sondern von der Republik Österreich im Jahr 1922.
Radikale Forderungen
Vier Jahre zuvor hatte Österreich den Ersten Weltkrieg verloren - und in der Hunger leidenden Bevölkerung, speziell in den industriellen Zentren der zusammenbrechenden Monarchie hatte sich eine revolutionäre Stimmung aufgebaut.
Aber die Revolution kam nicht.
Es kamen allerdings Revolutionäre - Otto Bauer zum Beispiel, der als Leutnant in den Krieg gezogen war, in russischer Kriegsgefangenschaft die Revolution miterlebt hatte und nach seiner Rückkehr nach Wien eine zentrale Rolle in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und dann in der Regierung Renner einnahm.
Der linke Flügel der Sozialdemokratie
Bauer repräsentierte den linken Parteiflügel der Sozialdemokratie. Mehrheitsfähig war das nicht, stand aber umso mehr unter Druck von beiden Seiten: Einerseits war da die pragmatisch denkende Mehrheit der sozialdemokratischen Funktionäre. Auf der anderen Seite entstand die kommunistische Bewegung, die in den ersten Monaten der Republik enormen Zulauf finden konnte - im Jahr 1919 dürfte die junge Partei bis zu 40.000 Mitglieder geworben haben.
Gegründet am 3. November 1918 durch radikale Studentinnen (Mitglied Nummer eins war Elfriede Friedländer), von der Sozialdemokratie enttäuschte Linksintellektuelle und einige Arbeiter, versuchte die KP, sich als radikal gesellschaftsverändernde Kraft zu etablieren.
Das erste KP-Programm
Das - nur in einem Polizeibericht überlieferte - erste Programm der KP musste bei allen bürgerlichen Österreichern alle Alarmglocken schrillen lassen:
"1. Die Übernahme der politischen und wirtschaftlichen Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte und durch die Bauernschaft sowie deren Ausschüsse und zentrale Organe. Aufstellung einer Arbeitermiliz.
2. Die Volksabstimmung in allen für das arbeitende Volk wichtigen Fragen.
3. Die Entziehung aller politischen Rechte (Wahlrecht, Militärrecht, politische Presse usw.) denjenigen, welche großes Privateigentum in irgendeiner Form besitzen.
4. Die Beschlagnahme aller Vorräte an Rohstoffen, Lebensmitteln und notwendigen Industrieprodukten durch die Gesellschaft behufs gleichmäßiger Verteilung.
5. Die Entziehung des privaten Verfügungsrechtes über alle Bank- und Betriebskapitalien und Unterstellung unter die Kontrolle der Arbeitenden.
6. Enteignung des Großgrundbesitzes und Übergabe an die land- und forstwirtschaftlichen Arbeiter und an arme Bauern zum Zwecke der Bewirtschaftung für die Gesellschaft."
Verlust von Eigentum und politischen Rechten - das war eine Drohung, die angesichts der Revolution in Russland und der sich zumindest zeitweise etablierenden Rätediktaturen in Ungarn und Bayern dem österreichischen Establishment um 1920 als sehr reale Gefahr erscheinen mussten.
Wobei das Establishment weit mehr umfasste als den durch den Krieg diskreditierten (und von der Republik umgehend seiner ständischen Vorrechte entledigten) Adelsstand. Hunderttausende kleine Sparer hatten - im Vertrauen auf einen Sieg der Mittelmächte - ihre Ersparnisse in Kriegsanleihen investiert. Kleine Hausbesitzer, die in Zinshäuser investiert hatten, sahen sich um die Sicherung des Lebensabends betrogen, weil die Mieten noch unter dem Kaiser eingefroren worden waren (wenn Wiener die Miete "Zins" nennen, dann erinnert es an die "Verzinsung", die die Hausbesitzer auf ihre Investition erwarteten). Und schließlich gab es da die Drohung, dass alle Besitzer von "Privateigentum in irgendeiner Form" ihre eben erst errungenen politischen Freiheiten verlieren sollten.
Gemäßigte Sozialdemokraten
Es war die Sozialdemokratie, die in dieser Situation Augenmaß und Pragmatismus bewies: Der rechte Parteiflügel um den Staatskanzler Karl Renner und den Parteichef Karl Seitz forcierte die parlamentarische Demokratie und machte Schluss mit dem Rätesystem, das sich nicht nur in Betrieben und Kasernen, sondern bis zur Verfassung von 1920 sogar an der Staatsspitze etabliert hatte.
Regiert wurde die Erste Republik in den ersten Jahren von einer breit aufgestellten Koalition - und das brachte entscheidende Fortschritte in der Sozialpolitik, gestaltet vor allem von Ferdinand Hanusch: Schon im November 1918 waren der Achtstundentag, die Sonntagsruhe und die Arbeitslosenunterstützung beschlossen worden, 1919 folgten Betriebsrätegesetz und Urlaubsgesetz, 1920 Einigungsämter für Kollektivverträge und die Arbeiterkammern.
"Revolutionären Schutt", der "beseitigt" gehöre, nannten das die reaktionären Kräfte ab Mitte der 1920er-Jahre, als sich das politische Klima infolge des drückenden Friedensvertrags, der die letzten Geldvermögen vernichtenden Inflation und der hohen Arbeitslosigkeit zusehends verhärtete.
Rotes Modell-Bundesland Wien
Längst hatten da die Sozialdemokraten die Koalition verlassen - und sich auf ihr neu geschaffenes Modell-Bundesland Wien konzentriert. In der linken Hochburg Wien sollte so viel Sozialismus verwirklicht werden, wie es eben möglich war. Dort agierte der Finanzstadtrat Hugo Breitner, ein erfahrener Banker, der sich - zum Leidwesen der bürgerlichen Minderheit in der Bundeshauptstadt - eine klare Umverteilungspolitik zugunsten der Bedürftigen auf die Fahnen geschrieben hatte. Breitners bekannteste Steuer ist die Wohnbausteuer, aus deren Ertrag er das Bauprogramm für die großen Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit finanzierte; zu den "Breitner-Steuern" zählte aber auch eine Steuer auf die Beschäftigung von "Hausgehilfinnen", auf Sekt und auf allerlei Veranstaltungen (" Vergnügungssteuer"). Diese Umverteilung erlaubte auch eine weitgehende Entschuldung der Gemeinde Wien, während die Finanzsituation des Bundes und der (schwarz regierten und wenig reformfreudigen) Bundesländer schwierig blieb.
In den Ländern, bei Christlichsozialen, Deutschnationalen und Heimwehren hatte sich unterdessen eine kompromisslose Ablehnung der linken Umverteilungspolitik etabliert - die Stimmung im Land neigte immer mehr zur Gewalt (was später von den Nazis genutzt wurde). Die gemäßigte sozialdemokratische Parteiführung geriet immer tiefer in die Klemme: Auf der einen Seite die gewaltbereiten Reaktionäre, auf der anderen Seite die unzufriedenen Massen, die - etwa nach den Morden von Schattendorf - die Zeit des Kampfes gekommen sahen.
Radikale Visionen für die Arbeiter
Die Parteiführung aber glaubte an die parlamentarische Demokratie, versuchte sich in pragmatischer Politik, während sie die Arbeiterschaft gleichzeitig mit radikalen Visionen - etwa denen des legendären Linzer Programms von 1926 - abspeiste. Die Kommunisten sahen das mit Groll und verspotteten den "Austromarxismus" - ursprünglich ein linkes Schimpfwort für den Verbalradikalismus der pragmatischen Sozialdemokraten.
Die konservativen Gegner nahmen die radikalen Töne aber für bare Münze, fürchteten Revolution und Enteignung des nach der Wirtschaftskrise noch verbliebenen Besitzes. Und sie schürten diese Furcht vor allem in ländlichen Regionen. Es war dieses Klima, in dem das eingangs erwähnte, außenpolitisch isolierte, wirtschaftlich schwer zerrüttete und ideologisch gespaltene kleine Land auf Bürgerkrieg und Diktatur zutaumelte. (Conrad Seidl, DER STANDARD, 14.3.2015)