In kaum einem Land der Welt prozessiert der Staat mehr gegen Twitter und seine Nutzer als in der Türkei. Der Onlinedienst beugt sich mittlerweile aus Sorge um seine Werbeeinnahmen den Wünschen der türkischen Regierung und löscht Meldungen und Konten. Schlimm genug. Für Twitterschreiber in der Türkei aber sind noch härtere Zeiten angebrochen: 140 Zeichen reichen jetzt, um von der Polizei abgeholt zu werden.

Um Beleidigung und persönliche Ehrverletzung geht es hier nicht mehr. Das suggerieren Staatschef Tayyip Erdogan und seine Parteifreunde nur ihrem Wahlvolk. Wer sich durch einen Kommentar auf Twitter beleidigt fühlt, kann eine Zivilklage anstreben. Er braucht keinen Strafrechtsparagrafen und keine neue Polizeiabteilung, die Besitzer von Twitterkonten ausfindig macht und verhaftet. Erdogan hat selbst mit wünschenswerter Klarheit das Ziel dieser Polizeistaatspraktiken offengelegt: Es geht um die "Ausrottung" von Twitter und allen anderen sozialen Netzwerken im Internet. Denn was die türkische Regierung nicht kontrolliert, ist schädlich.

Die Heuchelei ist beachtlich. Rufmordkampagnen gegen Journalisten und Diffamierungen von Bürgern, die sich kritisch äußern, sind das tägliche Brot twitternder AKP-Funktionäre und ihrer Trolle. Die Terrorarmee "Islamischer Staat" (IS) muss sich dagegen in der sonst so sensiblen Türkei keine Sorgen um ihre Internetpropaganda machen. (Markus Bernath, DER STANDARD, 16.3.2015)