Eine neue, gedrehte Perspektive auf den Gekreuzigten: "Sündenfall und Erlösung" und viele andere Szenen hat Georg Lemberger 1535 aus Angst vor der leeren Fläche in dieses Gemälde mit dramatisierter Landschaft hineingebaut.

Foto: M. P. Bühler, Kunstmuseum Basel

Wien - Geradezu grotesk verrenkt sitzt Gottvater auf seinem sphärischen Thron, ein goldumwundenes Wolkenei, mit dem er durch das gülden und rosa umwölkte Loch im bewegt-bewegenden Himmel herabgeschwebt zu sein scheint. Und wenn er nicht doch noch das Gleichgewicht verliert und von seinem Luftgefährt herunterrutscht, wird der in großer Geste alles Irdische Dirigierende dort auch wieder verschwinden.

In Wolf Hubers Gemälde Erlösungsallegorie (nach 1543) aus dem Kunsthistorischen Museum (KHM) hat sich auch das Lendentuch des gekreuzigten Sohnes so aufgebauscht, als würde es gleich lebendig werden oder zumindest so wie eine Wattewolke gen Firmament entschwinden. Weg von dem Horror Vacui, einem Menschengetümmel vor den Toren der Stadt, in Richtung der idealisierten Berge. Am Nachbarkreuz baumeln nicht die Schächer, sondern eine Schlange: Die Auferstehung siegt auch über das Böse.

In der Ausstellung Fantastische Welten ist das Biest mit der gespalteten Zunge auch in einer anderen Arbeit wichtiges Accessoire: In der Figurengruppe für ein Grabmal, geschnitzt vom Meister IP (mehr als dessen Initialen sind nicht bekannt, er war aber ebenso wie Huber am Hof der Passauer Fürstbischöfe tätig), hängt das Tier der Versuchung wie ein Geschmeide um den Hals von Gevatter Tod, einem grauslichen Knochengestell, dem die Haut in Fetzen vom Skelett hängt - nur der Bart wirkt seltsamerweise sorgfältig gestutzt. Den Toten hat er bereits fest im Griff. Zwar ist dieser Umklammerung nicht mehr zu entkommen, doch ein sehnig-muskulöser Held, Christus, nimmt ihr mit eine Geste den Schauer: Seine Anwesenheit verspricht Erlösung.

Sola fide: Durch den Glauben

Heil erlangen allein durch den Glauben - "sola fide" -, durch die persönliche Beziehung zu Gott, so formulierte es Luther. Die Kreuzigungsszenen jener Zeit wurden wie auf einer Drehbühne rotiert, sodass der Betrachter unmittelbar aufgefordert ist, eine neue Perspektive zum Geschehen einzunehmen - und indirekt sein Verhältnis zu Christus zu überdenken. Der Gläubige wird eigenverantwortlich. Und schon ist man mittendrin im Zeitalter der Reformation, die in der Ausstellung - wen kümmert das 500-Jahr-Jubiläum zur Reformation? - allerdings mit keiner Silbe erwähnt wird.

Fantastische Welten, eine 140 Arbeiten starke Schau, die zuvor im Städel in Frankfurt zu sehen war, beleuchtet Albrecht Altdorfer und das Expressive in der Kunst um 1500 schon eher als stilgeschichtliches Phänomen, als rund 30 Jahre umspannende Phase, in der wild experimentiert wurde, Figuren gelängt, gebogen oder unter Falten begraben wurden, als wäre man nicht in der Renaissance, sondern mittendrin im Manierismus. Man schachtelte Figuren, Szenen, Perspektiven auf dieselbe Leinwand, spielte mit irrealem Licht und griff bisweilen zu grellen Farben. Die Drastik des Themas, der Ausdruck spiegelte sich in expressiven Himmeln, Landschaften, Gesten. Maximale Emotion, maximaler Schmerz in der Kunst - maximale Empathie beim Betrachter: In Albrecht Altdorfers Enthauptung der Heiligen Katharina (um 1508) ist der Hals der Jungfrau aus Alexandria zwar noch unversehrt, dafür ist die Natur geborsten, aufgewühlt und von Sonnenstrahlen entflammt.

Eine "Reaktion" auf Albrecht Dürer und dessen Suche nach der idealen Proportion nennt Guido Mesling, der die Ausstellung mit den Frankfurter Kollegen Jochen Sander und Stefan Roller konzipierte, diese Phase der Variation klassischer Stilmittel. Vermieden wird der Begriff "Donauschule": Tendenzen der Übertreibung wären nicht regional begrenzt, sondern würden vom Nieder- bis zum Oberrhein, von Prag bis Regensburg, in die Steiermark, nach Oberitalien und Nordfrankreich reichen. Mesling betont überdies den Humanismus und den Einfluss von Conrad Celtis. Dieser beschwor nicht nur die von Gott beseelte Natur, sondern auch die Idee einer eigenständigen, nordischen Antike, in der der Wald als erhabener Symbolraum, eine tragende Rolle spielt. Überzeugen tun einstweilen aber eher die Bilder von Albrecht Altdorfer und seinen Zeitgenossen und die famosen Schnitzwerke des Meisters IP. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 17.3.2015)