Die öffentliche Diskussion über Memoria, Erinnerungskultur und Erinnerungsorte ist in den vergangenen Jahren erneut aufgeflammt – nicht zuletzt, weil die Zahl der noch lebenden Zeitzeugen der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit des letzten Jahrhunderts unaufhaltsam gegen null strebt. Es steht der kritische Punkt an, an dem gelebte und gefühlte Erinnerung unwiderruflich an den kalten Speicher des kollektiven Gedächtnisses der "Nachgeborenen" übergeben werden muss. Dieser Prozess ruft uns unweigerlich die Grenzen des Erinnerns und Vergessens ins Bewusstsein.

Die Wege und Medien, dieses kollektive Erinnern und Vergessen zu thematisieren, sind vielfältig und reichen von wissenschaftlicher Geschichtsschreibung bis hin zu Gedenkstätten und Museen. Eine besondere Annäherung an die Thematik ist kürzlich einem jungen estnischen Regisseur gelungen. In seinem Film "In the Crosswind", im estnischen Original "Risttuules", widmet sich Martti Helde der Deportation zehntausender Esten während des stalinistischen Terrors und schafft durch das Medium des filmischen Blicks Sichtbarkeit und Präsenz für eine historische Katastrophe, die von ihren Protagonisten systematisch dem Vergessen anheimgegeben werden sollte.

Briefe aus dem sibirischen Gulag

Wie ein klassisches Historiendrama scheint "In the Crosswind" zu beginnen. Im Zentrum stehen die estnische Philosophiestudentin Erna, ihr Mann Heldur und ihre kleine Tochter Eliide. Im Zuge der "ethnischen Säuberungen" unter Stalin wird auch die junge Familie im Jahre 1941 zur Zwangsarbeit in sibirische Gulags deportiert. Schon bald von ihrem Mann getrennt, schreibt Erna unermüdliche Briefe, berichtet von den Zuständen im Lager, von der harten Arbeit, von Hunger, Willkür und schließlich vom Tod ihrer gemeinsamen Tochter.

Graue Zeitlosigkeit

Doch das Besondere an diesem Film ist die Form der Darstellung. Mit seiner eigenwilligen Kameraführung reproduziert der Film das Gefühl der grauen Zeitlosigkeit in den sibirischen Lagern. Die Menschen im Film bewegen sich nicht und werden vom Moment der Deportation an ausschließlich als Tableaux Vivants, als Standbilder, gezeigt. Einzig die Kamera ist in Bewegung – und mit ihr der Blick des Zuschauers. In Zeitlupe gleitet der Blick über die sibirische Landschaft, über Barracken und Gesichtszüge. Wie antike Skulpturen scheinen die Menschen in eine eingefrorene Zeit gestanzt, passiv, unfähig zu handeln und ohne eine Stimme, mit der sie sich Gehör verschaffen könnten.

Trailer "In the Crosswinds" (Original: "Risttuules").
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Die eingefrorene Zeit, das Gefühl, aus der Geschichte herausgefallen zu sein, bestimmt immer wieder auch den Ton in Ernas Briefen an ihren Mann. Es ist diese Stimme der Protagonistin, die körperlos aus dem Off die Geschichte hinter den erstarrten Bildern erzählt. Sie lässt aus, wofür es keine Worte gibt, doch die unerbittliche Führung der Kamera erlaubt es dem Zuschauer auch in diesen Momenten nicht, den Blick abzuwenden.

Genau dieses Gefühl habe den Sowjetterror ausgemacht, sagt Regisseur Helde. Dass es keinen Raum für eigene Entscheidungen gegeben habe und die Blickrichtung zu jeder Zeit festgeschrieben gewesen sei. In diesem Sinne lässt die Kameraführung das Gefühl des Ausgesetztseins für den Zuschauer lebendig werden, konfrontiert im sicheren Rahmen des Kinosaals mit den existenziellen Erfahrungen der Opfer des stalinistischen Terrors. Gleichzeitig ist es aber auch genau dieser Blick des Zuschauers, der den Opfern ihre Geschichte zurückgibt, der sie aus der Anonymität in das Bewusstsein der nachfolgenden Generationen überführt.

Außergewöhnliche Form

Helde, Jahrgang 1987, hat mit seinem Debüt, das ursprünglich als Dokumentation angelegt war, Durchhaltevermögen und Mut zur ungewöhnlichen Form bewiesen. Beinahe vier Jahre hat die Produktion gedauert. Neben den drei Hauptdarstellern kamen knapp siebenhundert Laienschauspieler zum Einsatz. Jedes Standbild musste monatelang geplant und vorbereitet werden. Riesige Karten und Bodenpläne wurden angefertigt, um die Positionen der Schauspieler und die Bewegung der Kamera minutiös festzulegen.

Herausgekommen ist ein ästhetisch beeindruckendes und historisch wie politisch wichtiges Werk. Es existieren keine Bilder, die die Deportationen der estnischen Bevölkerung dokumentieren könnten, da sie Teil großangelegter Geheimoperationen unter Stalin waren. Einen Teil dieser Lücke will "In the Crosswind" schließen, in dem der Film in Bildern erstarren lässt, was nicht vergessen werden soll. In diesem Zusammenhang leistet Heldes Film einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur. Er führt mit künstlerischen Mitteln des Films vor Augen, dass dem Gefühl des Ausgesetztseins nur durch aktives Hinsehen begegnet werden kann und dass Handeln vor dem Eintreten der Katastrophe nötig ist. (Annika Domainko, derStandard.at, 20.3.2015)