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Eine Frau hält eine Kerze und ein Plakat mit den Bildern von verschwundenen Kindern in China. Das Oberste Volksgericht hatte vor dem Volkskongress auf die brisante Thematik der Entführungen aufmerksam gemacht. Beim Kongress wurde das Thema aber nur in wenigen Worten angesprochen.

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18 Monate ist das Mädchen Zhou Tianyi alt, als Kinderhändler es auf offener Straße kidnappen. Nur einen Moment hat die Mutter nicht aufgepasst. Nun steht sie täglich bis in die Nacht an einer Straßenkreuzung und drückt Passanten und Autofahrern Suchflugblätter mit dem Foto ihres Babys in die Hand. Mit diesen Szenen beginnt der chinesische Spielfilm Shi Gu ("Verlorene Waisen"), der am Wochenende in Peking anlief.

Das Thema Kinderraub, eines der scheußlichsten Verbrechen in China, kommt in die Kinos. Dank des Hongkonger Stars Andy Lau als Hauptdarsteller spielte der Streifen schon am Premierentag 37 Millionen Yuan (5,5 Millionen Euro) Umsatz ein.

Vorbild für den Film ist der Fall des Vaters Guo Gangtang aus Shandong. Zwei Jahre war sein Sohn alt, als er im September 1997 entführt wurde. Seit 17 Jahren sucht er nach ihm. Per Motorrad fuhr er dabei fast 500.000 Kilometer durch mehr als 30 Provinzen. Er hat zehn Krafträder verschlissen. Bis jetzt fand er seinen heute bald 20 Jahre alten Jungen nicht.

Bedrückende Realität

Die cineastische Verarbeitung lässt im Kino reichlich Tränen fließen. An die bedrückende Realität kommt sie nicht heran. Chinas Oberstes Volksgericht schockierte Anfang März vor Beginn des Volkskongresses die Teilnehmer einer Pressekonferenz. Es legte in acht Beispielfällen offen, wie verbreitet der Kinderhandel im heutigen China ist.

So machten etwa Lan Shushan und seine Bande aus dem südwestchinesischen Guangxi profitable Geschäfte mit Entführungen und Verschleppungen. Auf ihr Konto gingen 34 verschwundene Kinder zwischen ein und zehn Jahren. 2008 wurde Lan gefasst, verurteilt und jetzt hingerichtet. Die Kinder kehrten nach Hause zurück. Ihre Identität musste durch DNA-Tests belegt werden. In einem Fall war ein Elternteil aus Verzweiflung gestorben.

Peking hat auf die Zunahme solcher Verbrechen reagiert - und die Strafen verschärft. Die Fälle seit 2012 hätten sich nun halbiert, sagte das Oberste Gericht. Trotzdem offenbaren absolute Zahlen das ungeheure Ausmaß: Zwischen 2010 und 2014 wurden von den Gerichten 12.963 Menschenhändler und ihre Käufer bestraft. Um wie viele Opfer es geht, enthüllte kürzlich die Justizzeitung Fazhi Ribao: 2014 konnte die Polizei dank Razzien 13.000 verschollene Kinder und 30.000 verschleppte junge Frauen befreien.

Eltern verkaufen Kinder

Eine neue Tendenz bei den Kidnappern sei, sich "Nachschub an Opfern" von den südostasiatischen Nachbarstaaten zu holen. 2014 wurden vier Banden chinesisch-burmesischer Menschenhändler gefasst und 177 burmesische Mädchen und Kleinkinder befreit. Sie sollten in China verkauft werden.

Sorge bereitet dem Obersten Gericht auch der neue Trend, dass immer mehr Babys von ihren eigenen Eltern verkauft werden. 2014 lag ihre Zahl höher als jene der geraubten Kinder. Der britische Sender BBC deckte unlängst mit versteckter Kamera auf, wie einfach man heute online oder über Krankenhäuser illegal an ein Baby kommt. Einem Reporter gelang es unter dem Deckmantel der "Adoption", die in China rechtens ist, ein Kind zu erhalten. Für Jungen würden bis zu 100.000 Yuan (rund 14.000 Euro) verlangt, die traditionell geringer geschätzten Mädchen kosten die Hälfte.

Der heikle Dauerskandal kam im Rechenschaftsbericht des Präsidenten des Obersten Gerichts vor dem Volkskongress in nur wenigen Worten zur Sprache. Dabei ist für Eltern die mögliche Entführung ihres Nachwuchses eine ernste Gefahr. Im Spielfilm Shigu wird das kleine Mädchen Zhou Tiany zufällig entdeckt. Ein Happy End gibt es nicht. Noch bevor die Mutter informiert werden kann, hat sie sich verzweifelt von einer Brücke ins Wasser gestürzt. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 24.3.2015)