Drüben auf Twitter, meinem zweiten Wohnzimmer, hat ein Kollege einen schönen Blogbeitrag über seine allererste Kindheitserinnerung geteilt und sich nach derselbigen seiner Mit-Twitteranten erkundigt. Es kamen viele launige, witzige und sentimentale Antworten zurück. Verwandte Personen, Haustiere und scheinbar unwichtige Wohndetails erschienen am häufigsten in diesen ersten Bildern.

Meine allererste Erinnerung ist meine Urgroßmutter, die mir ein Zuckerl von ihrem Krankenbett aus reicht. Lange Zeit war ich überzeugt, dass das keine "echte" Erinnerung sein kann – denn ich war gerade 18 Monate alt, als sie starb –, und hielt dieses Bild für das Produkt der vielen Erzählungen, die es über sie in der Familie gab. Ein Foto habe ich von "majka" (Mütterchen), wie ihre Enkelkinder und Kinder sie genannt haben, nie gesehen.

Nach vielen, vielen Jahren denke ich nun wieder an diese noch im 19. Jahrhundert geborene Frau, die ihr halbes Leben Witwe war und drei ihrer sechs Kinder im Zweiten Weltkrieg verloren hat – ein typisches Schicksal ihrer Generation. Ich denke an sie, ihre Nachkommen, an die Familienkonstellationen, in die meine Mutter und dann ich hineingeboren wurden, ich erinnere mich plötzlich an zahlreiche Anekdoten. Ich denke, das tut man wohl, wenn man Kinder bekommt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: APA/dpa

Welche Funktion diese Erinnerungen für andere haben, weiß ich nicht. Für mich bedeuten sie die Verbindung zu einer fernen Welt. Fern nicht nur auf der Zeitachse. Denn obwohl ich dachte, dass die der Migration immanente Sentimentalität mir nichts anhaben kann, erwische ich mich manchmal dabei, wie ich es bedauere, dass mein Sohn nicht unter dem gleichen Apfelbaum lesen wird oder die gleiche Sprachmelodie hören wird wie ich.

Es bleiben mir also nur die Erzählungen. Mein Sohn wird viel von meiner gütigen, menschenscheuen Großmutter hören. Und noch viel mehr über seinen liebevollen und starrköpfigen Urgroßvater, den er nur um wenige Wochen verpasst hat. Wahrscheinlich wird er von der mich plötzlich überkommenden orientalischen Schwermütigkeit genervt sein. Aber vielleicht wird ein winziger Teil meiner Erinnerungen auch ein Teil von ihm werden. (Olivera Stajić, derStandard.at, 24.3.2015)