Hilft unserem historischen Gedächtnis auf die Sprünge und lässt Schlaglichter auf die heutige Welt aufblitzen: Drago Jančar.

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"Die heutige Welt ist eine Welt der Wirrnis und des Terrors." So spricht nicht etwa einer unserer Zeitgenossen, sondern ein Rastloser im 17. Jahrhundert. Dieser Johann Ott ist die Hauptfigur im Roman Der Galeerensträfling, den der wohl bedeutendste slowenische Schriftsteller der Gegenwart 1978 publiziert hat, nachdem er selbst vier Jahre zuvor wegen "feindlicher Propaganda" inhaftiert gewesen war. Wenn Drago Jančar Historisches schildert, dann liegt dem eine genaue Recherche zugrunde, eine profunde Kenntnis früherer Zustände und die Erkenntnis der Problematik derartigen Erzählens.

Mit Geschichte will man etwas, hatte Alfred Döblin aus dem Exil in seinem vielbeachteten programmatischen Essay betont. Jančar will sowohl unserem historischen Gedächtnis auf die Sprünge helfen als auch aus der scheinbaren Distanz Schlaglichter auf die heutige Welt aufblitzen lassen. War 1978 im Tito-Jugoslawien die Befürchtung einer Obrigkeit zu lesen, der "innere Feind schloss sich zusammen", so konnte man das durchaus nicht nur auf die Epoche von Gegenreformation, Inquisition und Pest beziehen.

Nun ist die durchgesehene Neuausgabe von Jančars Roman, in dem er am tiefsten in menschliche Abgründe und in inhumanes Grauen führt, auf Deutsch unter dem geläufigeren Titel (zuvor Der Galeot) erschienen. Die Lektüre von Jančar lohnt sich allemal, in diesem Fall zeigt sich zudem, wie intensiv er im frühen Werk die Romanwelt, die Charaktere und die Hauptthemen angelegt hat, die er seither über die Zeiten spannt.

Johann Ott ist auf der Flucht, ohne dass die Gründe deutlich ausgesprochen werden. Er kommt aus dem fernen Fürstentum Neisse und zieht ruhelos in der Landschaft umher (es mag jene des heutigen Slowenien sein), die ebenso verheerend unwirtlich erscheint wie die Gesellschaft. In den Dörfern und Städten herrschen Willkür und Seuchen, grausamste Gewalt und himmelschreiender Aberglaube: "Dieses Land war wirklich in Verwirrung, es war wirklich ein Tummelplatz des Unglücks."

Solch unbehauste, umherirrende Protagonisten sind Grundfiguren in Jančars Romanen. Einer gerät in Nordlicht - 1984 publiziert, auf Deutsch 2011 - nahe der österreichischen Grenze im Winter vor dem "Anschluss" 1938 in Randbezirke des Lebens. Sein existenzieller Satz gilt auch für den Galeerensträfling: "dass ich eigentlich wirklich nicht wusste, was ich hier tat, und dass sich dieses ganze Stück Welt neigte, dass ich irgendwohin glitt." Auf den Abgrund driften auch die drei Personen zu, die in Katharina, der Pfau und der Jesuit (2000, dt. 2007) im 18. Jahrhundert unterwegs sind. Am Übergang zwischen Aberglaube und Aufklärung bleiben sie auf der Strecke. Und in Der Baum ohne Namen (2008, dt. 2010, alle im Folio-Verlag) verschwimmen die Grenzen der Zeit zwischen Zweitem Weltkrieg und dem Jahr 2000, erscheint das Erzählen als Labyrinth, suchen die Hauptfiguren auf ihrer Lebensflucht Zuflucht in Sex und Schlupflöchern der Geschichte.

Der Galeerensträfling muss sich ein paar Mal buchstäblich durch Schlupflöcher zwängen, die vermeintliche Rettung führt aber noch tiefer ins Schlamassel. Oft gleitet er aus und rutscht ab - die konkrete Situation ist durchaus symbolisch zu verstehen. In gekonnter formaler Präzision, mit großartigen Satzkaskaden vermittelt Jančar, wie zäh und schwer, schleimig und drückend Landschaften sowie Behausungen sind, wie düster es draußen und im Inneren der Menschen aussieht. Licht und Wärme gibt es kaum, nur Feuersglut und Kälte oder Hitze. Alles belastet die "Schädelhülle, dass darunter die ganze Hirnmasse schmolz und hin und her waberte und er davon einen vernebelten Blick kriegte." So scheinen auch die Sätze mitunter zu wabern, andere gemahnen in ihrer knappen Exaktheit des Ungemütlichen an Büchners Lenz.

Der Wind grollt, die Luft ist zäh. Ketzer und Hexen sieht man allerorten, die Justiz greift beim leisesten Verdacht zu, die Folter erpresst irrsinnige Geständnisse. Johann Ott schließt sich kurzzeitig einer häretischen Bruderschaft an, reitet mühsam mit Händlern weiter und flucht auf die Obrigkeit, der massenhaft getrunkene Alkohol zieht zu Boden.

Rettung ist nirgends in Sicht. Nur in der Mitte des Romans findet er einen schwankenden Komfort im Bürgerhaus. Aber die geruhsame Zeit zwischen Frauenschenkeln endet mit einer großartigen Raufszene im Haus des reichen Kaufmanns, dessen Frau in einer geradezu aberwitzig satirischen Episode sich dem Kaiser verweigert. Dem Vaganten bleiben Lumpen und Bettelstab, auf die Galeeren muss er aufgrund einer Verwechslung, dort gelangt er an den Rand des Wahnsinns.

Nach der Lektüre dieses Romans mag man sich fragen, wie der Soziologe Ulrich Beck behaupten konnte, ausgerechnet für unsere Gegenwart sei eine "Risikogesellschaft" bezeichnend. Drago Jančar verweist nicht nur auf das 17. Jahrhundert, indem sein Erzähler erklärt, dass sich auf der anderen Straßenseite "ein eiskalter und ungerührter und eingespielter Apparat befand". (Klaus Zeyringer, Album, DER STANDARD, 28.3.2015)