Das Jahr 1965 war ein zweifaches Jubiläum: 20 Jahre Zusammenbruch des Hitler-Reiches sowie zehn Jahre Staatsvertrag und Abzug der Besatzungsmächte. Der Nachkriegsboom in Österreich zog mächtig an, eine seit 1945 herrschende Koalitionsregierung teilte sich das Land auf.

Das gesellschaftliche Klima war grotesk reaktionär. In der Aula der Wiener Hauptuniversität gab es etwa einen Aushang: Der Student der Theologie (Es folgte der volle Name) sei wegen § 129 b StGB ("Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts") verurteilt und deshalb von der Universität relegiert worden.
In diese Atmosphäre der konservativen Erstarrung, in der sowohl die ÖVP als auch die SPÖ um alte Nazis buhlten, brach die Affäre um einen eher obskuren Universitätsprofessor auf. Sie endete in gewalttätigen Demonstrationen und mit einem Todesopfer, dem ersten politischen Opfer der Zweiten Republik.
An der Wiener Hochschule für Welthandel hielt ein älterer Herr namens Taras Borodajkewycz Vorlesungen über die Zeit zwischen 1918 und 1945. Zu seinen Spezialitäten gehörte es, bei historischen Persönlichkeiten die angebliche oder tatsächliche jüdische Herkunft zu betonen. Die "österreichische Nation" sei eine "Sünde wider die Natur".
Borodajkewycz war ein Altösterreicher mit Wurzeln im Osten der Monarchie, trotz oder wegen seines slawischen Namens deutschnational, dann nationalsozialistisch, allerdings mit starkem katholischem Einschlag. In den frühen Dreißigerjahren illegaler Nazi, nach dem "Anschluss" 1938 offiziell stolzes Parteimitglied, nach dem Zusammenbruch des Regimes verbreitete er unverdrossen seinen Antisemitismus und seine NS-Nostalgie vor der akademischen Jugend.

Er war nicht der Einzige, nicht nur in der Professorenschaft. Auch die Studentenschaft war schwer konservativ bis deutschnational/rechtsextrem. Der Ring Freiheitlicher Studenten (RFS) war bei den Wahlen zur Hochschülerschaft mit bis zu 30 Prozent zweitstärkste Fraktion (nach den Konservativen). Die Thesen von Borodajkewycz erregten nicht viel Aufsehen. Nur ein Student aus sozialistischem Haus, Ferdinand Lacina, war irritiert und schrieb über Jahre die Ausfälle des Herrn Professor mit. Lacina ging damit zu Heinz Fischer, damals Jurist in der SPÖ-Parlamentsfraktion, und Fischer veröffentlichte kritische Artikel in der Zukunft und der Arbeiter-Zeitung.
Eine österreichische Affäre
Ergebnis: Fischer wurde geklagt und verlor. Borodajkewicz habe vor Gericht sein "großes Geschick bewiesen, das Verbotsgesetz von 1947 nur knapp nicht zu überschreiten", schreibt dazu der junge Historiker Rafael Kropiunigg in seinem neuen Buch "Eine österreichische Affäre. Der Fall Borodajkewycz" (Czernin-Verlag). Der Richter ließ ihm Sätze wie "Der Einfluß der Juden war zu groß" durchgehen. Oscar Bronner, mit Fischer befreundet, übergab die Mitschriften Lacinas seinem Vater, dem Kabarettisten Gerhard Bronner, der daraus einen scharfen Sketch für die TV-Sendung "Zeitventil" machte.
Es kam zu Anfragen sozialdemokratischer Abgeordneter. Was tat die Hochschülerschaft an der Welthandel? Sie stellte sich hinter Borodajkewycz. Der erzkonservative Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percevic unternahm zunächst nichts. Borodajkewycz, dadurch ermutigt, gab eine Pressekonferenz, wo er unter höhnischem Beifall rechter Studenten Sätze von sich gab wie: "Sie wissen, dass ich tatsächlich Persönlichkeiten der Geschichte, die aus dem Judentum stammen, als solche deklariere, und ich werde das auch weiter tun, weil es meine Pflicht als Historiker ist."
Der von Hugo Portisch geleitete "Kurier" begann mit einer scharf kritischen Artikelserie über den "Professor mit NS-Vergangenheit". Am 31. März 1965 stießen rechte und linke Demonstranten in der Wiener Innenstadt aufeinander. Die Anti-Borodajkewycz-Gruppe war von linken Studenten und Arbeitern, zum Teil Kommunisten, dominiert. Die Pro-Borodajkewycz-Demo, organisiert vom RFS, setzte sich aus eher irregeleiteten Konservativen, denen es um die "akademische Freiheit" ging, aber auch aus Hardcore-Rechten und Burschenschaftern zusammen. Mit dabei war auch der rechtsextreme Chemiestudent Günther Kümel, schon einschlägig vorbelastet, unter anderem hatte er ein paar Jahre vorher gemeinsam mit dem später verurteilten Neonazi Gerd Honsik Schüsse auf das Parlament abgegeben.

Die Demos, auf beiden Seiten inzwischen rund 3000 Personen, hatten den Charakter einer Straßenschlacht angenommen. Ecke Kärntner Straße stieß der 67-jährige, 1,65 Meter große ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger auf den 24-jährigen Kümel, der Boxkurse besucht hatte. Kümel versetzte Kirchweger einen Faustschlag an den Kopf, Kirchweger stürzte wie vom Blitz getroffen zu Boden. Zwei Tage später war er tot.
Verschwörungstheorien
Historiker Kropiunigg hat 2011 über Vermittler Kontakt mit Kümel, der sich nun "Gunther" nennt, aufgenommen. In einem langen schriftlichen Interview, das Kropiunigg in seinem Buch auszugsweise veröffentlichte, breitet Kümel allerlei wehleidige Verschwörungstheorien und Verharmlosungen des Rechtsextremismus aus. Zu seinem Prozess sagte er: "Ich hatte jedoch Glück mit meinem Richter."
Kümel wurde wegen "Putativ-Notwehrüberschreitung" zu zehn Monaten verurteilt. Kümel hatte sich damit verantwortet, dass er vor einer Gruppe "Kommunisten" verfolgt worden sei, wobei "einer von hinten auf mich aufprallte ... Ich drehte mich um, ein Erwachsener stürmte mit erhobenen Fäusten auf mich ein. Ich schlug einen eher ungeschickten Schlag in Richtung seines Kopfes ... der Mann stürzte." (Interview Kropiunigg).
Tödlicher Schlag
Kümel stellte also den Schlag gegen den alten Mann als Verteidigung dar. Das Gericht folgte ihm teilweise, meinte aber, er hätte überreagiert. Am tödlichen Schlag selbst ist nicht zu zweifeln. Allerdings hat der damalige Demo-Teilnehmer und spätere SPÖ-Politiker Albrecht Konecny dem Autor Kropiunigg gestanden: "Wir haben dann in Kanada eine entscheidende Zeugin aufgetrieben ... Sie hat gelogen, sie hat schlicht und einfach eine Geschichte erzählt, die ihr ein Verbindungsmann (präsentierte)". Die Zeugin sagte seinerzeit aus, der alte Mann sei nur zufällig mit Kümel zusammengestoßen und habe diesen nicht angegriffen.
Kümel verließ nach Verbüßung seiner Haft Österreich und lebt heute in Deutschland. Borodajkewycz wurde 1966 pensioniert (mit vollen Bezügen). 1968 rebellierten die linken Studenten gegen die konservativen Universitäten. Bundespräsident Heinz Fischer heute: "Die Affäre Borodajkewycz war doch ein Weckruf, der viele Menschen berührt und auch erschüttert hat".
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"Eine antifaschistische Manifestation"
Rudolf Gelbard erlebte die Eskalation um Borodajkewycz und den Tod Ernst Kirchwegers, 20 Jahre nachdem er selbst als Jugendlicher aus dem KZ befreit worden war. Die Empörung über antisemitische Umtriebe ist dem unermüdlichen Mahner geblieben.
Von Colette M. Schmidt
Wenn Rudolf Gelbard über seine Erinnerungen an den 31. März 1965 – er war damals 34 – reden soll, muss er erst darüber sprechen, wer er ist. Um seine Empörung zu verstehen, müsse man wissen: "19 Mitglieder meiner jüdischen Familie wurden in der NS-Zeit ermordet. Deshalb empören mich antisemitische Vorfälle immer wieder."
Das Auftreten des Professors Taras Borodajkewycz in den 1960ern müsse man auch im zeitgeschichtlichen Kontext sehen. "Von April bis Dezember 1961 fand der Eichmann-Prozess in Jerusalem statt", beginnt Gelbard, der selbst drei Jahre im KZ Theresienstadt interniert war. Als er 1945 befreit wurde, war er 15 und einer von wenigen Jugendlichen, die dort überlebt hatten. "Seit dem Eichmann-Prozess wusste man, dass zwei Drittel des europäischen Judentums ermordet wurden, davon eineinhalb Millionen Babys, Kinder und Jugendliche. Die Ermordeten kamen aus 25 Ländern", fährt er fort, "sie wurden getötet durch Massenerschießungen der Einsatzgruppen, diesen Schlachthäusern auf Rädern, durch Gasautos und in sechs Menschenvernichtungsfabriken."
Gelbard besteht darauf, sich das zu vergegenwärtigen, wenn man über Borodajkewycz reden wolle. Dieser sei Historiker gewesen, "deshalb sind seine antisemitischen Bemerkungen in seinen Vorlesungen unentschuldbar, in den 1960er-Jahren waren Standardwerke der Zeitgeschichtsforschung über die 21 verschiedenen Verbrechen des Nazismus bereits erschienen". Borodajkewycz müsse die Fakten zumindest teilweise gekannt haben, sagt Gelbard, der sich selbst zeit seines Lebens dafür einsetzt, dass diese Fakten nicht vergessen werden. Seit Jahrzehnten hält er Vorträge an der Uni und an Schulen, seit 2013 tritt er als einer der "letzten Zeugen" in der gleichnamigen Produktion am Burgtheater auf.
Mit brennendem Herzen
Die Eltern des Wieners starben wenige Jahre nach dem Krieg an den Folgen der Haft im KZ. 1965 brannte Gelbards Herz. Man ging auf die Straße gegen den Professor, dessen Suspendierung man forderte: "Die Auseinandersetzungen begannen circa um 16.00 Uhr und dauerten in vielen Straßen der Innenstadt bis spät nachts an", erinnert sich Gelbard. Die Stimmung zwischen den Gegnern des Antisemiten Borodajkewycz und seinen Verteidigern war schon zu Beginn der Kundgebung am Karlsplatz sehr angespannt. Sie war es schon bei einer der letzten Vorlesungen des Professors, erinnert sich Gelbard: "Da ist Michael Siegert (später Journalist, Anm.) aufgestanden und hat gemeint: ,Wos is, Herr Professor, heut gar nichts von die Juden?', und da ist es schon losgegangen im Hörsaal." Man habe sich nicht nur angeschrien, "es kam natürlich auch zum Körpereinsatz, ich war immer dabei".

Am 31. März eskalierte die Situation. Die Rechten warfen Stinkbomben, mit Farbe gefüllte Orangen und Eier, so Gelbard. Bei der Opernkreuzung kam es zu einer "Pattsituation" zwischen den Fronten, da ging es "schon sehr hart zu, am härtesten dann vor dem Sacher. Da kam ein Hagel von Wurfgeschoßen herunter."
Natürlich habe er auch mitgemischt. "Jeder von uns hätte Kirchwegers Schicksal erleiden können", ist sich Gelbard sicher, der vor dem Sacher war, als der Widerstandskämpfer Kirchweger dort nach dem Faustschlag des Studenten Günther Kümel in seinem Blut lag. "Später haben wir erfahren: Dieser Kümel hat Boxen trainiert", bemerkt Gelbard.
Das Begräbnis Kirchwegers sei "eine große antifaschistische Manifestation gewesen", 30.000 kamen. "Auch Bürgermeister Franz Jonas (SPÖ), der gerade im Wahlkampf für die Bundespräsidentschaftswahl stand" , erzählt Gelbard, selbst Sozialdemokrat.
Enttäuscht habe ihn der damalige Unterrichtsminister Theodor Piffl-Percevic (ÖVP). Dieser habe erst gesagt, er könne Borodajkewycz nicht suspendieren, und gab später zu: "Ich würde ihn auch nicht suspendieren, wenn ich das Recht dazu hätte." (Hans Rauscher und Colette M. Schmidt, DER STANDARD, 30.3.2015)