Belgrad/Den Haag - Die Entscheidung des UNO-Kriegsverbrechertribunals für Jugoslawien (ICTY), die vorläufige Freilassung des serbischen Ultranationalisten Vojislav Seselj aufzuheben, hat in Belgrad ein seit Jahren nicht mehr dagewesenes politisches Erdbeben ausgelöst. "Eine neue Haager Ohrfeige", titelte die regierungsnahe "Politika" am Dienstag, das Boulevardblatt "Vecernje novosti" sprach von einer "Schlinge des Westens für Vucic".

Seselj, der sich wegen Kriegsverbrechen in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und der nordserbischen Provinz Vojvodina verantworten muss, schloss unterdessen am Dienstag erneut eine freiwillige Rückkehr in das Tribunalgefängnis in Den Haag aus. "Wir werden ja sehen, wie es aussieht, wenn mich meine engsten Komplizen in all den mir angelasteten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit festnehmen lassen, erklärte er gegenüber dem Sender "N1". Gemeint sind damit seine früheren Parteikollegen Premier Aleksandar Vucic und Präsident Tomislav Nikolic, die bis zum Herbst 2008 zu Seseljs engsten Mitarbeitern gehörten, bevor sie sich von den Ultranationalisten ab- und einem proeuropäischen Kurs zuwandten.

"Humanitäre Gründe"

Das Haager Tribunal hatte Anfang November die Freilassung Seseljs mit "humanitären Gründen" bzw. seiner Krebserkrankung begründet. Bereits Anfang Dezember hatten die Ankläger jedoch eine Rückkehr des Ultranationalisten gefordert. Seselj habe mit seinem Verhalten nach seiner Rückkehr nach Serbien die Basis für die Freilassung untergraben. Seselj war gleich nach seiner Rückkehr nach Belgrad durch öffentliche Hetze aufgefallen. Vor allem im Nachbarland Kroatien sorgte dies für große Aufregung und Verstimmung in den serbisch-kroatischen Beziehungen. Beobachter befürchten nun, Seselj könnte eine erzwungene Festnahme für Propagandazwecke nutzen und sich als Märtyrer inszenieren.

Vucic warf dem ICTY am Dienstag einmal mehr vor, die Entscheidung sei politisch motiviert: "Da hat jemand den Fehler gemacht, zu glauben, Vojislav Seselj sei ein Faktor, der mich und die serbische Regierung erschüttern kann, und wollte ihn als Schreckgespenst einsetzen", schrieb Vucic in einem Kommentar in der Zeitung "Politika". Zudem wiederholte der Regierungschef seine bereits am Montag getätigten Vermutungen, bei der Entscheidung könnte es sich um eine Retourkutsche für seine Kritik an den NATO-Luftangriffen auf das ehemalige Jugoslawien handeln.

Zu beruhigen versuchte hingegen Vizepremier Rasim Ljajic. Bisher sei Belgrad von der ICTY-Entscheidung noch nicht offiziell informiert worden. Sobald dies geschehen sein, werde die Regierung die "bestmögliche Entscheidung treffen", um die Stabilität des Landes zu wahren. Ljajic forderte zugleich Seselj auf, sich freiwillig zu stellen. Dies wäre auch zu dessen eigenen Gunsten, würde es dem Haager Tribunal doch eine mögliche Entscheidung über eine erneute Freilassung Seseljs erleichtern. Wie es um den Gesundheitszustand Seseljs derzeit wirklich steht, ist in Serbien kaum bekannt. Mit einem Urteil im Prozess wird im Sommer 2015 gerechnet.

Für die serbische Regierung wäre eine erzwungen Festnahme Seseljs jedenfalls ein schwerer Schlag, gilt der Ultranationalist doch weiterhin als Symbol der Rechtsextremen. Bereits nach seiner Freilassung im November wurde er von jubelnden Anhängern am Flughafen empfangen - muss Seselj zurück in Haft, werden sie wohl auf die Straße gehen und das bereits bekannte politische Theater des Ultranationalisten noch einmal toppen. (APA, 31.3.2015)