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Prostitution wird nicht selten mit der "Triebstau"-Theorie gerechtfertigt. Die Sexualmedizinerin Elia Bragagna kann dieser Argumentation nicht zustimmen: "Eine Gesellschaft, die sagt, wir brauchen die Ausbeutung von Frauen aus Schwellen- oder Entwicklungsländern, damit unsere Männer nicht kriminell werden, ist unerträglich."

Foto: APA/dpa/Marijan Murat

Es sind immer schreckliche Taten, die die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Im Frühjahr findet die Polizei die verbrannte Leiche einer 20-jährigen Studentin in einem Flussbett in der Türkei. Ein Busfahrer wollte sie vergewaltigen - als diese sich wehrt, schlägt er auf sie ein, ersticht sie schließlich.

Der Fall löste große Empörung aus - und schnell taucht dann die Frage nach der Natur des Mannes auf. So schlug ein türkischer Anwalt ein Wochengeld vor, mit dem Männer zu Prostituierten gehen, anstatt Frauen zu vergewaltigen und umzubringen. Die Mordrate an Frauen könne folglich um 99 Prozent gesenkt werden, so der Anwalt in seiner Anfrage an die Regierung.

Und in Deutschland regte kürzlich ein Pfarrer medienwirksam bei einer Diskussion der CSU an, Asylwerbern Prostituierte zur Verfügung zu stellen. "Diese Männer haben ein sexuelles Bedürfnis", sagt er. Und in einem Dorf mit 100 Asylwerbern hätten schließlich viele Angst, dass so viele Männer die Frauen im Ort belästigen könnten.

Natur versus Kultur

Während die Sozialwissenschaften sexuelle Gewalt mit falscher Sozialisation oder männlicher Machtausübung erklären, gibt es Evolutionstheoretiker, die darin eine Strategie zur Verbreitung der Gene erkennen. Die Schlussfolgerung: Eine Neigung zur Vergewaltigung wäre beim heutigen Mann noch vorhanden.

Elia Bragagna, Leiterin der ersten sexualmedizinischen Praxis Österreichs, kann den biologistischen Theorien nichts abgewinnen: "Eine Gesellschaft, die sagt, wir brauchen die Ausbeutung von Frauen aus Schwellen- oder Entwicklungsländern, damit unsere Männer nicht kriminell werden, ist unerträglich."

Dass menschliches Verhalten oder Empfinden von Hormonen oder Botenstoffen geprägt ist, bezweifelt die Ärztin nicht. "Aber unsere sexuellen Bedürfnisse sind auch stark geprägt davon, wie wir aufwachsen. Nicht die Natur, sondern die Kultur gibt vor, wie Männer Frauen behandeln und umgekehrt."

Das Fazit der Sexualmedizinerin: Eine Kultur, die Männer in ihrem Erwachsensein unterfordere, entbinde sie aus ihrer Verantwortung den Frauen gegenüber. Das wiederum begünstigt soziale Mileus, in denen sexuelle Gewalt weitgehend geduldet wird.

Das Beispiel Schweden

Auch Volkmar Sigusch, der als einer der bedeutendsten Sexualforscher Europas gilt, hält nichts davon, sexuelle Aggression auf die Gene des Mannes zu schieben. "Man kann Verhältnisse, die möglicherweise in der Steinzeit vorherrschend waren, nicht auf unser 21. Jahrhundert übertragen. Entscheidend ist nicht die Natur-, sondern die Kulturgeschichte der letzten drei Jahrhunderte." Trotzdem vertritt er die These, dass die Zahl sexueller Übergriffe ohne Prostitution ansteigen würde: Potentielle Täter sieht er am ehesten in Männern mit schwachen sozialen Kompetenzen.

Tatsächlich hat das gendersensible Schweden, das seit 1999 als erstes Land der Welt Freier unter Strafe gestellt hat, die höchste Vergewaltigungsrate Europas. Mehrere Untersuchungen aber bezweifeln die Aussagekraft der Zahlen: Sie führen die hohe Zahl an Anzeigen unter anderem auf die höhere Bereitschaft in Schweden zurück, sexuelle Übergriffe zu melden, weil die Stigmatisierung von Betroffenen weniger ausgeprägt sei als anderswo. Außerdem ist der Vergewaltigungs-Tatbestand in Schweden breiter gefasst als in anderen europäischen Staaten.

Kein Zusammenhang

Auch Anton Luger, Leiter der Hormon- und Stoffwechselabteilung des AKH Wien, will sexuelle Gewalt sicher nicht auf Androgene wie Testosteron schieben. Zwar korreliere die Höhe des Testosteronwertes mit der Libido, wirklich entscheidend sei aber, wo eine Gesellschaft ihre Hemmschwellen ansetzt, was sie als Norm akzeptiere oder Menschen bei der Erziehung mitgebe.

Für Luger existieren auch keine überzeugenden Daten, die einen Zusammenhang zwischen Testosteron und Aggressivität belegen würden. Stattdessen sieht der Hormon-Spezialist Vergewaltigungen als brutales Machtinstrument, das etwa in Kriegszeiten erkennbar sei: "Wir brauchen da nicht in Richtung 'Islamischer Staat' im Nahen Osten blicken. Systematische Vergewaltigungen kennen wir auch aus der jüngeren europäischen Geschichte, zum Beispiel aus dem Jugoslawienkrieg".

Den Machtaspekt sexueller Gewalt belegt auch eine Studie in "The Journal of Sex Research 37", in der rund 15 Prozent einer untersuchten homosexuellen Population in Deutschland über Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung durch Männer berichten. Die Autoren finden Hinweise, nach denen die Absicht der Täter, ihren Opfern zu schaden, größer sei, als das Verlangen nach sexuellem Lustgewinn. So verwundert es auch nicht, dass sich manche Täter sogar als Schwulenhasser entpuppen und Homosexuelle gerade deshalb vergewaltigen. (Sandra Nigischer, derStandard.at, 20.4.2015)