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Nach Unfällen werden oft technische Lösungen präsentiert, Lernprozesse sind aber rar. Im Bild: Ein Wrackteil des Airbus A320, der vergangene Woche in Frankreich abgestürzt ist.

Foto: REUTERS/Emmanuel Foudrot

Wien - Nach dem Terror des 11. Septembers 2001 wurden viele Maßnahmen getroffen, die ähnliche Angriffe verhindern sollten. Unter anderem wurden Cockpittüren in Verkehrsflugzeugen so eingerichtet, dass Unbefugte nicht ins Cockpit gelangen können. Im Fall des kürzlichen Germanwings-Unglücks hatte das fatale Folgen. Der Pilot konnte den offenbar vorsätzlich handelnden Copiloten nicht daran hindern, die Maschine zum Absturz zu bringen.

"Durch die Ausweitung der Sicherheitsstrategie auf technischer Ebene wurde ein neuerliches Unglück in Kauf genommen", sagt Heike Egner vom Institut für Geographie und Regionalforschung der Uni Klagenfurt. Die Geografin ist Herausgeberin des wissenschaftlichen Sammelbands Learning and Calamities: Practices, Interpretations, Patterns, der heuer bei Routledge erschienen ist und sich mit der Frage beschäftigt, wie die Gesellschaft aus Katastrophen lernen kann.

"Nicht jede Maßnahme, die in Reaktion auf eine Katastrophe getroffen wird, kann als Lernen bezeichnet werden", sagt Egner, die mit ihren Kollegen eine ganze Reihe von Extremereignissen samt deren gesellschaftlichen Folgen untersucht hat. Ein sehr anschauliches Beispiel sei, dass nach 9/11 viele US-Bürger das Flugzeug gegen das Auto eingetauscht haben. Die Folge: Die Zahl der Verkehrstoten schoss in die Höhe.

Oft wird in Reaktion auf ein Unglück eine technische Lösung umgesetzt, die zwar ein punktuelles Problem löst, aber kaum größere Zusammenhänge im Auge behält. Das betrifft etwa frühere Flussregulierungen in Reaktion auf Hochwasserkatastrophen, die ökologische Aspekte nicht in Betracht zogen. Aber auch aktuelle Maßnahmen bilden meist keinen sozialen Lernprozess ab. Das pazifische Frühwarnsystem, das nach dem Tsunami von 2004 entstand, bleibt als technische Gegenmaßnahme oberflächlich. "Zu lernen hieße, keine neuen Bauten in den betroffenen Zonen zu planen."

Nach dem Unglück von Fukushima habe es etwa ein "window of opportunity" gegeben, in dem es möglich gewesen wäre, die Atomenergie zurückzufahren, erinnert sich Egner. Dort entschied man sich entgegen der Einstellung einer Bevölkerungsmehrheit, die Kraftwerke weiterzuführen - ein weiterer missglückter Lernprozess.

"Es zeigt sich, dass wir im Grunde keine Vorstellung davon haben, wie gesellschaftliches Lernen erfolgen könnte", sagt Egner. Ein Individuum kann auf kognitive Fähigkeiten zurückgreifen, um Vergangenes zu überblicken und daraus Anleitungen für neue Handlungen zu beziehen. Doch auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene gibt es kein Bewusstsein, keine Kognition. "Es bleibt nichts anderes als Kommunikation, um vorhandenes Wissen in adäquates Handeln zu überführen." Es sollten dabei möglichst viele Gelegenheiten für eine positive Restrukturierung der Gesellschaft geschaffen werden. Dafür seien entsprechende demokratische Strukturen, offene Plattformen, Möglichkeiten der Selbstorganisation notwendig.

Gefahren des Digitalzeitalters

Die Verfügbarkeit von Information über ein mögliches Erdbeben bedeutet noch lange nicht, dass in der Bevölkerung ein Lerneffekt entsteht. Entsprechendes Training sei sinnvoll. "An der erdbebengefährdeten US-Westküste gibt es an den Schulen Vorbereitungskurse", nennt Egner ein positives Beispiel.

Die beschleunigte Kommunikation der Gegenwart bedeute nicht zwangsläufig, dass die Lernfähigkeit der Gesellschaft verbessert wird. So wie das Unterlaufen der Machtstrukturen durch soziale Medien im Arabischen Frühling eine positive Erscheinung war, könnten sie im Katastrophenfall die effiziente Informationsweitergabe behindern.

Im digitalen Zeitalter verändern sich nicht nur die Bewältigungsstrategien bei Katastrophen, sondern auch die Bedrohungen selbst. Großflächige Ausfälle der Energie- und IT-Systeme zählen zu den neuen Szenarien. Jaro Krieger-Lamina vom Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bereitet etwa ein Projekt vor, das die Gefahr eines "digitalen Stillstands" durch Stromausfälle, Cyberangriffe oder Naturkatastrophen beleuchten soll. "So gut wie alle Versorgungssysteme sind in irgendeiner Weise IT-gestützt - bis hin zur Wasserversorgung", sagt Krieger-Lamina. "Wie Menschen reagieren, wenn die Kommunikation gemeinsam mit Nahrungs- und Wasserversorgung ausfällt, kann man mangels ausreichender historischer Daten kaum vorhersagen."

Ein Worst Case wäre laut Krieger-Lamina ein Sonnensturm, der jenem des sogenannten Carrington-Ereignisses von 1859 gleicht. Der Energieimpuls bewirkte damals den Ausfall vieler Telegrafen-Stationen auf der Nordhalbkugel. Einige Telegrafenbeamte bekamen sogar einen Elektroschock. "Bei einem derartigen Ereignis würden heute die meisten Computer ausfallen", sagt der Technikfolgenabschätzer. 2012 gab es übrigens einen Sonnensturm ähnlicher Stärke. Glücklicherweise verpasste er die Erde.

Die gesellschaftliche Abhängigkeit von Infrastrukturen ist nicht überall gleich. "Wenn die gewohnt sichere Stromversorgung in Österreich ausfällt, werden die Menschen anders reagieren als in einem Land, in dem Stromausfälle vielleicht zum Alltag gehören." Um eine Katastrophe abzumildern, sind redundante Systeme, großflächige Notfallpläne, die beispielsweise die Verteilung von Kraftstoff für Notgeneratoren regeln, und Aufklärungsarbeit im Vorhinein notwendig. "Ein paar einfache Dinge muss man wissen", sagt Krieger-Lamina, "etwa dass man bei einem Stromausfall Informationen über das Autoradio bekommen kann."

Unsicherheit akzeptieren

Der erste und wichtigste Schritt ist aber, Unsicherheit zu akzeptieren. Dann könne man Strategien finden, sie zu minimieren. Für Heike Egner verhindert gerade der Glaube, dass 100-prozentige Sicherheit möglich sei, einen sozialen Lernprozess. Sicherheit wird ausgelagert, der Tod tabuisiert. Man müsse auch lernen, statistische Wahrheiten zu verstehen.

Dass weniger Leute in Flugzeugen als in Autos sterben, ist bekannt. Die Ängste der Menschen, die dieses Faktum konterkarieren, können am ehesten noch mit evolutionspsychologischen Thesen erklärt werden: Als die Menschheit noch in kleinen Stämmen zusammenlebte, konnte der plötzliche Tod vieler die Existenz einer ganzen Gesellschaft bedrohen. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 1.4.2015)