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Die Exekutive stürmte den koscheren Supermarkt, in dem sich der Geiselnehmer mit Kunden verschanzt hatte.

Foto: AP Photo /BFMTV

Den Fernseher einschalten, sich aufs Sofa fläzen und eine spannende Geiselnahme verfolgen: Das erlauben heute nicht mehr die Hollywood-Studios, sondern TV-Nachrichtensender, die rund um die Uhr in Echtzeit berichten. Über sehr reale Geiselnahmen wohlgemerkt.

"40 Leute, in einem Raum verbarrikadiert"

Beim Terroranschlag von Mitte März auf das Museum Bardo in Tunis interviewte der Pariser Sender i-Télé eine französische Touristin namens Géraldine, die aus dem dritten Stockwerk live erzählte: "Wir sind etwa 40 Leute, in einem Raum verbarrikadiert, aber ein bisschen in Panik, denn man hört viel Lärm."

Der TV-Sender BFM hatte blitzschnell die Telefonnummer einer anderen Französin aufgetrieben. Fabienne berichtete, sie sitze auf dem Boden. "Ich bin es nicht gewohnt, Schüsse zu hören. Das ist sehr beeindruckend." Der Journalist fragte, ob es Tote gebe. "Ich bin nicht Expertin", antwortete Fabienne. "Aber angesichts der Schüsse würde es mich wundern, wenn es keine Toten gäbe."

Bei i-Télé war die Telefonverbindung schlecht, aber man hörte, wie sich Schüsse nähern. Eine andere Geisel warnte, man solle aufhören zu reden. Das Live-Gespräch wurde abrupt beendet. Jetzt erst gab die Journalistin des Senders bekannt, zur Sicherheit der im Museum befindlichen Menschen unterbreche sie die Leitung.

"Nicht etwas spät?", fragte die Pariser Zeitung "Libération" darauf mit bissiger Ironie. Das war nicht die einzige Kritik. Der französische Medienrat CSA hatte zuvor schon die hautnahe Berichterstattung mehrerer Sender während der "Charlie Hebdo"-Anschläge im Jänner scharf gerügt. "Der Rat meint, dass die Verbreitung von Informationen zu einem Zeitpunkt, da die Terroristen noch handlungsfähig waren, geeignet war, die Sicherheit der festgehaltenen Personen in schwerwiegender Weise zu gefährden."

"Dürfte immer noch dort sein"

Der Rat rügte nicht nur den Schnellschusssender BFM. In seinem Kielwasser hatten sich auch seriösere TV-Stationen live zugeschaltet, als sich die Brüder Kouachi in einer Druckerei nordöstlich von Paris verschanzt hielten. Der öffentlich-rechtliche Sender France-2 rief während der Polizeiaktion die Schwester eines Angestellten an, der sich im ersten Stock versteckt hielt. Sie teilte mit, sie sei sehr besorgt, versuche sie doch vergeblich, ihren Bruder per Handy zu erreichen. Zum Glück schauten die Kouachis nicht France-2.

In Paris wurden zur selben Zeit mehrere Kunden eines jüdischen Supermarkts festgehalten. BFM gelang es, mit dem Attentäter Ahmedi Coulibaly in telefonischen Kontakt zu treten. Im Studio erzählte ein Journalist, eine Frau habe sich in den Kühlraum "hinten im Laden" geflüchtet und "dürfte immer noch dort sein". Coulibaly, der offenbar selbst mit BFM zu sprechen wünschte, hätte von den Geiseln im Kühlraum erfahren, wenn er das Liveprogramm auf seinem Telefon angesehen hätte.

Geiseln aus Supermarkt klagen

Deshalb gehen nun mehrere Geiseln des Hypercacher gerichtlich gegen BFM vor. Ihr Anwalt Patrick Klugman sieht den Tatbestand der Lebensgefährdung erfüllt. Das Verhalten des Sender sei "ein Fehler, der nicht ungestraft bleiben darf, zumal bekannt war, dass der Terrorist diesen Sender schaute", meinte der Anwalt am Freitag. Die Staatsanwaltschaft hat ein Verfahren eröffnet.

Quoten vervielfacht

Der Echtzeitsender wird im schlimmsten Fall mit einer Geldbuße davonkommen. Das dürfte er verkraften: Seine werbegebundene Einschaltquote war während der Pariser Anschläge von zwei auf mehr als 13 Prozent hochgeschnellt.

Die Nachrichtensender verteidigen sich mit dem Informationsbedürfnis verängstigter Bürger und dem Argument, ihre Reporter vermittelten der Polizei selbst wertvolle Hinweise. Nach der unbestätigten Darstellung von BFM gab die Einsatzpolizei den Befehl zur Erstürmung des Geschäfts, als sie von der Redaktion erfahren habe, dass Coulibaly offenbar am Beten war. Der Radiosender RTL ging etwas zurückhaltender vor: Er hatte den Terroristen ebenfalls am Telefon, strahlte die Aussagen aber erst am Tag danach aus. (Stefan Brändle, derStandard.at, 3.4.2015)